Выбрать главу

Mit schnellen Schritten betrat Socorro die Hütte. Sie trug einen Morgenrock und hielt einen entsicherten Revolver vom Typ Smith & Wesson in der Hand. Jessica hatte Socorro schon öfters mit einer Waffe gesehen, allerdings immer nur im Halfter, nie in der Hand.

Trotz der schußbereiten Pistole schien Socorro nichts Außergewöhnliches zu erwarten, und in dem trüben Licht hielt sie Minh einen Augenblick lang für die Wache. »Pense que escuche...«, sagte sie, merkte dann aber, daß es gar nicht Vincente war, und sah nach links, wo Jessica stand. »Que haces...?« rief sie und hielt dann plötzlich inne.

Was nun folgte, passierte so schnell, daß sich später keiner der Beteiligten an den genauen Ablauf erinnern konnte.

Socorro hob den Revolver und machte, mit dem Finger am Abzug, einen schnellen Satz auf Jessica zu. Vermutlich wollte sie Jessica als Geisel nehmen.

Jessica sah sie kommen und reagierte ähnlich schnell. Sie erinnerte sich an CQB, die Nahkampftechnik, die sie gelernt hatte, und vor allem an eine Grundregel, die Brigadier Wade ihr eingeschärft hatte: Wenn der Gegner auf einen zukommt, weicht man meist instinktiv zurück. Der Gegner erwartet das auch. Aber das dürfen Sie auf keinen Fall tun! Sie müssen ihn überraschen, indem sie auf ihn zugehen!

Blitzschnell sprang Jessica auf Socorro zu und schlug ihr mit der geballten linken Faust gegen die Innenseite des rechten Arms. Der Arm flog hoch, die Finger öffneten sich, und die Pistole fiel zu Boden. Sie stieß ihr zwei Finger gegen die Kehle und zog ihr mit dem Fuß die Beine weg. Bevor Socorro fallen konnte, hatte Jessica sie im Würgegriff und drückte zu. Im Krieg - und für den war CQB ja gedacht - würde sie dem Gegner nun mit einem Ruck das Genick brechen.

Doch Jessica, die noch nie jemand getötet oder auch nur mit dem Gedanken gespielt hatte, zögerte. Sie spürte, daß Socorro etwas sagen wollte, und lockerte leicht ihren Griff.

Keuchend und stammelnd flehte Socorro: »Laß mich gehen... Ich werde euch helfen... mit euch fliehen... kenne den Weg.«

Partridge war näher gekommen und hatte alles verstanden. »Kannst du ihr trauen?« fragte er Jessica.

Wieder zögerte Jessica. Sie hatte plötzlich Mitleid mit Socorro, die ja nicht durch und durch böse gewesen war. Während der ganzen Zeit hatte Jessica das Gefühl gehabt, daß Socorros Arbeit als Krankenschwester in Amerika eine Spur des Guten in ihr zurückgelassen hatte. Sie hatte sich um Nickys Verbrennungen gekümmert und seine Fingerstümpfe versorgt. Dann war da diese Tafel Schokolade gewesen, die sie ihnen ins Boot warf, als sie Hunger hatten. Socorro hatte ihre Lebensbedingungen verbessert, indem sie Fensterlöcher in die Wände schneiden ließ... hatte Miguels Befehl mißachtet und Jessica zu Nicky gelassen...

Aber dieselbe Socorro war auch von Anfang an Teil dieser Entführung gewesen und hatte Jessica, als Nicky die Finger abgeschnitten wurden, mit barschen Worten zum Schweigen gebracht.

Plötzlich schossen Jessica Nickys Worte durch den Kopf: »Es ist schon in Ordnung, daß du Vincente erschossen hast... Er hat uns zwar manchmal geholfen, aber er war trotzdem einer von denen... Weißt du, was das Stockholm-Syndrom ist?... Meine Mom weiß es...«

Hüte dich vor dem Stockholm-Syndrom!

Jessica kannte die Antwort auf Partridges Frage. Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Nein!«

Ihre Blicke trafen sich. Harry war erstaunt über Jessicas Fähigkeiten im Nahkampf. Er fragte sich, wo sie es gelernt hatte und warum. Doch im Augenblick war das gleichgültig. Wichtig war nur, daß sie eine Entscheidung getroffen hatte und ihn jetzt mit den Augen um Zustimmung bat. Er nickte knapp. Dann wandte er sich ab, weil er nicht sehen wollte, was nun kam.

Jessica mußte ihren ganzen Mut zusammennehmen. Sie drückte fest zu und riß dann Socorros Kopf scharf nach links. Es gab ein leises, knackendes Geräusch, der Körper in ihrem Arm wurde schlaff. Sie ließ ihn zu Boden sinken.

Unter Partridges Führung schlichen sich Jessica, Nicky, Minh und Fernandez leise durch das Dorf. Kein Mensch war zu sehen.

Am Landungssteg sagte Ken O'Hara: »Ich hab' schon geglaubt, ihr würdet gar nicht mehr kommen.«

»Wir hatten Probleme«, erwiderte Partridge. »Jetzt aber schnell. Welches Boot?«

»Das da.« Es war ein offener, hölzerner Kahn, etwa zehn Meter lang, mit zwei Außenbordmotoren. Zwei Leinen hielten ihn am Steg. »Ich hab' mir aus den anderen Booten zusätzlichen Treibstoff besorgt.« O'Hara wies auf einige Plastikkanister im Heck.

»Alles an Bord!« befahl Partridge.

Bis vor kurzem noch hatten Wolken den Dreiviertelmond verhüllt, doch jetzt rissen sie auf, und alles wurde heller, vor allem über dem Wasser.

Fernandez half Jessica und Nicky in das Boot. Jessica zitterte am ganzen Körper, so elend war ihr; die Exekution Socorros zeigte Wirkung. Minh filmte die Szene vom Steg aus und sprang als letzter ins Boot, während O'Hara die Leinen löste und es mit einem Riemen abstieß. Fernandez packte den zweiten Riemen, und zusammen ruderten sie das Boot in die Flußmitte.

Partridge sah sich um und bemerkte, daß O'Hara die Wartezeit genutzt hatte. Einige der anderen Boote lagen am Ufer auf Grund, andere trieben auf dem Fluß davon.

»Ich hab' ein paar Stöpsel gezogen.« O'Hara deutete auf die Boote am Ufer. »Man kann sie zwar wieder aufblasen, aber das wird eine Weile dauern. Von den guten Motoren hab' ich ein paar ins Wasser geworfen.«

»Gute Arbeit, Ken!« sagte Partridge. Seine Entscheidung, O'Hara mitzunehmen, hatte er noch kein einziges Mal bereut.

Es gab keine Sitzgelegenheiten in dem Boot. Wie in dem, das Jessica, Nicky und Angus hierhergebracht hatte, saßen die Passagiere auf Planken, die längs über den Kiel verliefen. Die beiden Ruderer standen an den Flanken und hatten einiges zu tun, um den Kahn in die Flußmitte zu bringen. Doch allmählich entschwand Nueva Esperanza ihren Blicken, und die starke Strömung trieb sie voran.

Partridge hatte auf die Uhr gesehen, als sie vom Landungssteg ablegten: 2 Uhr 35. Da sie mit der Strömung schnell vorankamen, sagte er um 2 Uhr 50 zu O'Hara, er solle die Motoren anlassen.

O'Hara öffnete die Luftzufuhr am Treibstofftank des Backbordmotors, zog den Choke, drückte ein paar Mal auf den Gummiball für die Benzinzufuhr und riß dann kräftig am Starterseil. Die Maschine sprang sofort an und summte im Leerlauf. Der zweite Motor folgte. Dann legte O'Hara bei beiden den Gang ein, und Augenblicke später schoß das Boot vorwärts.

Der Himmel war noch immer klar. Das helle Mondlicht, das sich auf der Wasseroberfläche spiegelte, erleichterte die Navigation auf dem gewundenen Flußlauf.

»Zu welcher Landepiste fahren wir jetzt?« fragte Fernandez.

Partridge stellte sich die Landkarte vor, die er inzwischen beinahe auswendig kannte, und überlegte.

Da sie über den Fluß flohen, schied die Durchgangsstraße, auf der sie gelandet waren, auf jeden Fall aus. So blieb noch die kleine Piste der Drogenhändler, die sie in etwa eineinhalb Stunden erreichen würden, und die Piste bei Sion, die noch eine dreistündige Bootsfahrt und einen anstrengenden Dreimeilenmarsch durch den Dschungel entfernt lag.

Wenn sie versuchten, Sion bis zum vereinbarten Zeitpunkt um 8 Uhr zu erreichen, würde die Zeit möglicherweise knapp. Andererseits würden sie bei der ersten Piste um einige Stunden zu früh eintreffen; und falls ihre Verfolger sie einholten, würde es zu einem Feuergefecht kommen, das sie nur verlieren konnten, da sie zahlenmäßig wie in der Bewaffnung unterlegen waren.

Es schien also am vernünftigsten, die größtmögliche Distanz zwischen sich und Nueva Esperanza zu bringen.

»Wir fahren nach Sion«, verkündete Partridge. »Wenn wir an Land sind, wartet auf uns ein Gewaltmarsch durch den Dschungel. Also ruht euch jetzt aus und versucht, zu Kräften zu kommen.«

Mit der Zeit beruhigte sich Jessica wieder, das unkontrollierte Zittern ließ nach, die Übelkeit verschwand. Sie fragte sich allerdings, ob sie je über das, was sie getan hatte, ganz hinwegkommen würde. Socorros verzweifeltes, flehendes Flüstern würde ihr mit Sicherheit noch lange in den Ohren klingen.