Die Formationen waren winzig. Kaum zu erkennen, bis Der-zuden-Tieren-spricht das Schiff näher heransteuerte.
Die Lying Bastard glitt vom Rand der Ringwelt heran, fünfhundert Meilen weit unter ihrer Unterseite. Herausgearbeitete Senken und Erhebungen glitten vorbei, unregelmäßig, doch irgendwie angenehm, ästhetisch…
Viele Jahrhunderte schon schwebten Ausflugsschiffe von der Erde in genau der gleichen Weise über die Mondoberfläche. Die Aussicht hier war in mancherlei Hinsicht ähnlich: luftleere Mulden und Krater und Gipfel, übergangslose Wechsel zwischen Schwarz und Weiß, auf der dunklen Rückseite des irdischen Mondes offenbart durch mächtige Scheinwerfer, die die Schiffe mitführten. Und doch gab es einen Unterschied. In welcher Höhe auch immer man über dem Mond dahinglitt — stets war der Horizont zu sehen, der sich in einer sanften Rundung scharf und zackig vom schwarzen Hintergrund des Alls abhob.
Der Horizont der Ringwelt besaß keine Zacken und war nicht gerundet. Er bildete eine gerade Linie, wie mit dem Lineal gezogen, unvorstellbar weit entfernt und kaum sichtbar, schwarz vor dem schwarzen All.
Wie hält der Kzin das nur aus? fragte sich Louis. Er steuert die Lying Bastard schon seit Stunden unter dem Bauch dieses… Artefaktes dahin.
Louis erschauerte. Nur allmählich wurde ihm die Größe, der gigantische Maßstab der Ringwelt bewußt. Es war unangenehm — wie alle Lernprozesse.
Er wandte die Augen von dem furchteinflößenden Horizont ab und betrachtete die angeleuchtete Fläche über und unter der Lying Bastard.
»Die Wasserflächen weisen anscheinend sämtlich ungefähr die gleiche Größe auf«, sagte Nessus.
»Ich habe ein paar kleinere Seen entdeckt«, widersprach Teela. »Und dort, sehen Sie — das ist ein Fluß. Es muß ein Fluß sein. Aber bis jetzt habe ich noch kein richtig großes Meer gesehen.«
Seen gab es in Hülle und Fülle, wenn Louis sich nicht irrte und die vielen flachen Ausbuchtungen Seen waren. Natürlich waren nicht alle gleich groß, aber sie schienen regelmäßig verteilt, und keine Region blieb ohne Wasser. Und… »Flach. Alle Seen haben einen flachen Boden!«
»Ja«, sagte Nessus.
»Wenn alle Seen flach sind, bedeutet das, daß die Ringweltler keine Wasserbewohner sind. Sie nutzen lediglich die oberen Schichten der Seen. So wie wir.«
»Aber die Seen sind unregelmäßig geformt«, sagte Teela. »Und die Ränder wirkten ausgefranst. Was bedeutet das?«
»Buchten. So viele Buchten, wie man sich nur wünschen kann.«
»Also sind Ihre Ringweltler Landbewohner, aber sie fürchten das Wasser nicht. Sonst würden sie nicht so viele Buchten benötigen«, sagte Nessus und blickte Louis an. »Louis, diese Wesen scheinen Ihnen ähnlich zu sein. Die Kzinti hassen Wasser, und meine Spezies fürchtet sich vor dem Ertrinken.«
Man kann eine Menge über eine Welt erfahren, wenn man ihre Kehrseite betrachtet, dachte Louis. Eines Tages würde er eine Monographie über dieses Thema verfassen…
»Es muß schön sein, wenn man sich die Welt so gestalten kann, wie man sie haben will«, sagte Teela.
»Gefällt dir deine Welt etwa nicht, Playmate?«
»Du weißt genau, was ich meine.«
»Macht?« Louis mochte Überraschungen; er hatte keine Meinung zu Macht. Er war nicht kreativ; er schuf keine Dinge — er bevorzugte es, sie zu entdecken.
Voraus sah er irgend etwas. Eine höhere Auswölbung… und eine daraus hervorragende Flosse oder Finne, schwarz im Licht der gedrosselten Antriebe und sicher Hunderttausende von Quadratmeilen groß.
Wenn die anderen Erhebungen Seen waren, dann war das hier ein Ozean; der König aller Ozeane. Er zog sich endlos unter/über ihnen dahin, und sein Boden war nicht glatt. Er sah aus wie eine topographische Karte des irdischen Pazifik: Täler, Gräben, Untiefen, bodenlose Tiefen und Gipfel, die weit genug aufragten, um auf der Oberseite Inseln zu bilden.
»Sie wollten die Fauna und Flora ihrer Heimat erhalten«, vermutete Teela. »Dazu brauchten sie einen tiefen Ozean. Und diese Flosse dient wahrscheinlich dazu, die unteren Wasserschichten kühl zu halten. Eine Kühlrippe.«
Ein Ozean, der zwar nicht tief genug, aber ausgedehnt genug war, um die Erde zu verschlucken.
»Das reicht«, sagte der Kzin plötzlich. »Wir sollten als nächstes die Innenseite untersuchen!«
»Zuerst werden wir Messungen vornehmen. Ist der Ring wirklich rund? Schon die geringste Abweichung würde genügen, um Luft in den Raum schwappen zu lassen!«
»Wir wissen doch, daß es Luft gibt, Nessus!« wandte Louis Wu ein. »Die Verteilung des Wassers auf der inneren Oberfläche wird uns verraten, wie weit der Ring von der Kreisform abweicht!«
Nessus gab sich geschlagen. »Nun gut. Sobald wir den Rand des gegenüberliegenden Ringwalls erreicht haben.«
Sie entdeckten Löcher von Meteoriteneinschlägen. Es gab nicht viele, aber sie waren vorhanden. Amüsiert überlegte Louis, daß die Ringweltler vielleicht doch nicht ihr ganzes Sonnensystem gesäubert hatten. Nein — die Meteoriten mußten von draußen gekommen sein, aus dem interstellaren Raum. Ein konischer Krater glitt im Licht der Fusionsantriebe vorüber, und Louis entdeckte ein Glitzern am Boden des Kraters. Etwas Nacktes, Reflektierendes.
Es mußte ein Stück blanker Ringweltboden sein. Der Boden bestand aus einem Material, das dicht genug war, um vierzig Prozent aller Neutrinos aufzuhalten, und wahrscheinlich ungeheuer fest. Über dem Boden, auf der Innenseite: Erdboden und Wasser und Städte, und darüber Luft. Unter dem Ringboden, dem All zugekehrt: ein schwammiges Material wie Schaumplastik vielleicht, um Meteoriteneinschlägen die Wucht zu nehmen. Die meisten Meteoriten würden in dem dicken, schaumigen Material verdampfen. Aber einige kamen durch und hinterließen konische Löcher mit glänzenden Böden…
Weit voraus, beinahe hinter der unendlichen, unendlich sanften Wölbung, entdeckte Louis eine Vertiefung. Das muß ein großer Brocken gewesen sein, dachte er. So groß, daß man den Krater selbst aus dieser Entfernung im Sternenlicht erkennen kann.
Er machte die anderen nicht auf seine Entdeckung aufmerksam. Louis Augen und Verstand waren noch nicht an die Dimensionen der Ringwelt gewöhnt…
KAPITEL NEUN
SCHATTENBLENDEN
Gleißend ging die G2-Sonne hinter dem geraden schwarzen Rand des Ringes auf. Die Helligkeit schmerzte, bis Der-zu-den-Tierenspricht die Hülle polarisierte. Louis betrachtete die Sonnenscheibe, und er entdeckte einen scharfen dunklen Umriß, der eine Ecke der Sonnenscheibe verdeckte. Eine Schattenblende.
»Wir müssen vorsichtig sein«, warnte Nessus. »Wenn wir mit gleicher Geschwindigkeit wie der Ring über der inneren Oberfläche schweben, werden wir bestimmt angegriffen!«
Die Antwort von Der-zu-den-Tieren-spricht war ein fauchendes Gähnen. Nach so vielen Stunden hinter den Kontrollen schien der Kzin zu ermüden. »Mit welchen Waffen denn? Wir haben bereits festgestellt, daß die Ringweltkonstrukteure nicht einmal eine funktionierende Radiostation betreiben!«