»Mach dir deswegen keine Gedanken. Die Sonne geht nicht unter, hast du das vergessen?«
»Sie geht nicht unter?« Ihre Hysterie endete so abrupt, wie sie begonnen hatte. »Oh! Natürlich! Die Sonne geht nicht unter!«
»Wir müssen uns daran gewöhnen. Schau noch einmal hin; ist das nicht der Rand einer Schattenblende vor der Sonne?«
Tatsächlich sah es aus, als hätte jemand ein gerades Stück Rand aus der Sonne geschnitten. Die Sonne verschwand langsam, während sie hinsahen.
»Wir starten besser«, sagte der Kzin. »Wenn es dunkel ist, sollten wir in der Luft sein.«
KAPITEL ELF
HIMMELSBOGEN
Vier Flugräder stiegen in einer Rautenformation in das schwindende Tageslicht. Das nackte Ringweltfundament blieb unter ihnen zurück.
Nessus hatte ihnen erklärt, wie man die Räder miteinander koppelte. Drei der Flugräder waren jetzt so programmiert, daß sie alles nachvollzogen, was Louis mit seinem vierten machte. Louis steuerte für alle. Er saß in seinem Kontursitz, der einem Massagestuhl ohne Massagemechanik ähnelte, und steuerte mit Fußpedalen und einem Joystick.
Über seinem Instrumentenbrett schwebten vier durchscheinende Miniaturköpfe wie Halluzinationen. Eine schöne Sirene mit rabenschwarzem Haar, ein wilder Quasi-Tiger mit Augen, die zu intelligent aussahen, und zwei irgendwie lächerlich wirkende einäugige Pythons. Die Konferenzschaltung funktionierte einwandfrei, und das Resultat erzeugte einen Eindruck wie im Delirium tremens.
Während die Flugräder sich über den schwarzen Lavawall erhoben, beobachtete Louis den Gesichtsausdruck der anderen.
Teela reagierte zuerst. Ihre Augen suchten die mittlere Umgebung ab, dann hob sie den Blick — und fand Unendlichkeit, wo sie sonst immer nur einen Horizont gesehen hatte. Ihre Augen wurden groß und rund. »Oh, Louis!«
»Was für ein außergewöhnlicher Berg!« sagte Der-zu-den-Tierenspricht.
Nessus sagte gar nichts. Seine Köpfe hüpften auf und ab und kreisten nervös.
Die Dunkelheit brach rasch herein. Ein schwarzer Schatten glitt plötzlich über den riesigen Berg. Sekunden später war er nicht mehr zu sehen. Die Sonne war jetzt nur noch ein feiner goldener Streifen, überdeckt von Schwärze. Und dann nahm etwas im dunkler werdenden Himmel Gestalt an.
Ein gigantischer Bogen.
Seine Umrisse wurden schnell deutlicher. Während Erde und Himmel in Dunkelheit versanken, wurde die volle Pracht der Ringwelt am nächtlichen Himmel sichtbar.
Die Ringwelt erhob sich in einem gigantischen Bogen über sich selbst. Streifen aus Babyblau mit weißen Wolkenfetzen wechselten sich mit schmaleren Streifen aus fast schwarzem Dunkelblau ab. An seiner Basis war der Bogen unglaublich breit. Mit zunehmender Höhe wurde er rasch schmaler. In der Nähe des Zenits war er kaum noch mehr als eine durchbrochene Linie aus leuchtendem Blauweiß. Im Zenit selbst war der Bogen vom ansonsten unsichtbaren Ring der Schattenblenden durchbrochen.
Die Flugräder stiegen schnell und lautlos auf. Die Schallfalte am Bug arbeitete äußerst wirkungsvoll. Louis hörte keinerlei Windgeräusche von draußen. Um so mehr erschrak er, als ein Schrei wie orchestrale Musik in seine kleine private Sphäre eindrang.
Es klang wie eine explodierende Dampforgel.
Es war schmerzhaft laut. Louis hielt sich die Ohren zu. Er war so benommen, daß er nicht gleich begriff, was vorging. Er betätigte die Interkomkontrolle, und Nessus Bild verblaßte wie ein Gespenst in der Dämmerung. Der Schrei (ein Kirchenchor, der bei lebendigem Leib verbrannte?) wurde beträchtlich leiser. Trotzdem konnte Louis ihn noch immer durch die Interkoms von Teela und Der-zu-denTieren-spricht hören.
»Warum schreit er denn so?« rief Teela erstaunt.
»Panik. Es wird eine Weile dauern, bis er sich daran gewöhnt hat.«
»Woran gewöhnt?«
»Ich übernehme das Kommando!« polterte Der-zu-den-Tierenspricht. »Der Blätteresser ist nicht mehr in der Lage, irgendwelche Entscheidungen zu treffen! Ich erkläre diese Mission zu einem militärischen Unternehmen und übernehme hiermit das Kommando!«
Einen Moment lang dachte Louis über die einzige Alternative nach: das Kommando für sich selbst zu beanspruchen. Aber wer mochte sich schon mit einem Kzin streiten? Außerdem gab der Kzin wahrscheinlich einen besseren Anführer ab.
Inzwischen waren die Flugräder eine halbe Meile hoch. Himmel und Erde waren größtenteils schwarz; doch auf der schwarzen Landschaft lagen noch schwärzere Schatten, die ihr Form verliehen, wenn schon keine Farben. Der Himmel war von Sternen übersät und wurde vom egozerschmetternden Bogen der Ringwelt dominiert.
Seltsam genug, daß Louis bei diesem Anblick an Dantes Göttliche Komödie denken mußte. Dantes Universum war ein komplexer Artefakt gewesen, mit den Seelen von Menschen und Engeln als präzisen, maschinenartigen Bestandteilen der riesigen Konstruktion. Die Ringwelt war unübersehbar ein Artefakt, ein konstruiertes Ding. Man konnte es nicht vergessen, nicht für einen einzigen Augenblick, denn der Beweis erhob sich über ihnen, blau und gescheckt und riesig, von einer Stelle hinter der Unendlichkeit bis hinauf in die nächste Unendlichkeit.
Kein Wunder, daß Nessus nicht imstande gewesen war, diesen Anblick zu ertragen. Er hatte zuviel Angst — und dachte zu realistisch. Vielleicht bemerkte er die Schönheit, vielleicht auch nicht. Was er jedoch ganz bestimmt nicht vergaß: daß sie auf einem Artefakten gestrandet waren, der größer war als alle Welten des früheren Puppenspieler-Imperiums zusammen.
»Ich glaube, ich kann die Randwälle sehen!« fauchte der Kzin.
Louis riß sich vom Anblick des Bogens los. Er sah nach Steuerbord und Backbord, und sein Mut sank.
Zur Linken (er blickte am Graben entlang, den die Landung der Lying Bastard hinterlassen hatte, also entsprach links Backbord) zeichnete sich der Randwall als eine kaum wahrnehmbare blauschwarze Linie auf blauschwarzem Hintergrund ab. Louis konnte nicht ausmachen, wie hoch er war. Die Basis konnte man nur erahnen. Er sah nur den obersten Rand, und während Louis noch hinstarrte, verschwand er. Die Linie war dort verlaufen, wo der Horizont sein mochte; genausogut hätte sie die Basis anstatt die Spitze von irgend etwas sein können.
Rechts oder in Richtung Steuerbord sah der andere Randwall fast genauso aus. Die gleiche Höhe, der gleiche Anblick, die gleiche Tendenz der dünnen Linie zu verblassen, wenn man länger hinsah.
Anscheinend war die Liar ziemlich genau in der Mitte des Rings abgestürzt. Die Randwälle schienen gleich weit entfernt… was bedeutete, daß sie beinahe eine halbe Million Meilen entfernt waren.
Louis schluckte. »Sprecher-zu-den-Tieren, was meinen Sie?«
»Meiner Meinung nach ist der Wall in Richtung Backbord ein klein wenig höher.«
»Okay.« Louis steuerte nach links. Die anderen Flugräder folgten automatisch.
Louis aktivierte den Interkom, um einen Blick auf Nessus zu werfen. Der Puppenspieler umklammerte den Sattel mit allen drei Beinen. Die beiden Köpfe waren zwischen Sattel und Körper versteckt. Er flog blind durch die Nacht.
»Sind Sie sicher, Sprecher?« fragte Teela.
»Selbstverständlich«, erwiderte der Kzin. »Der Wall in Richtung Backbord ist sichtbar höher!«
Louis lächelte insgeheim. Er war zwar nie militärisch ausgebildet worden, aber er wußte, was Krieg bedeutete. Er war am Boden überrascht worden, als auf Wunderland eine Revolution ausgebrochen war, und er hatte drei Monate als Guerilla gekämpft, bevor er sich bis zu einem Schiff durchschlagen konnte.
Ein Merkmal eines guten Offiziers war, so erinnerte sich Louis, daß er rasche Entscheidungen treffen konnte. Wenn sie dann zufällig auch noch richtig waren, um so besser…
Sie flogen über schwarzes Land in Richtung Backbord. Der Ring über ihnen leuchtete viel heller als der irdische Mond, doch Mondlicht reicht nicht aus, um aus der Luft Einzelheiten einer Landschaft zu erkennen. Die Meteorrinne, die die Lying Bastard in die Oberfläche der Ringwelt gerissen hatte, war ein silberner Draht hinter ihnen. Irgendwann verschwand sie ganz in der Dunkelheit.