Die Lufträder beschleunigten stetig und lautlos. Knapp unterhalb der Schallgeschwindigkeit durchdrang ein Rauschen die Schallfalte. Beim Durchdringen der Schallmauer erreichte es seine maximale Lautstärke, dann erstarb es jäh wieder. Die Schallfalte veränderte ihre Form, und erneut herrschte Stille.
Kurz darauf erreichten die Räder Reisegeschwindigkeit. Louis entspannte sich in seinem Sattel. Er schätzte, daß er mehr als einen Monat in diesem Sattel verbringen würde, und er tat gut daran, sich rechtzeitig daran zu gewöhnen.
Er fing an (weil er der einzige war, der tatsächlich flog, und weil er aus diesem Grund nicht einschlafen durfte), sein Flugrad durchzutesten.
Die Hygieneeinrichtung war einfach, bequem und leicht zu bedienen. Aber würdelos.
Er versuchte seine Hand in die Schallfalte zu schieben. Die Falte war ein Kraftfeld, ein Netz aus Kraftvektoren, die Luftströmungen um den Raum herumleiten sollten, den das Flugrad einnahm. Sie fühlte sich an wie ein starker Wind, der von allen Seiten zugleich auf das Luftfahrzeug zuströmte. Louis befand sich in einer geschützten Hülle aus Windströmungen.
Die Schallfalte war offenbar idiotensicher.
Er probierte es aus, indem er ein Taschentuch aus einem Ausgabeschlitz zog und es fallen ließ. Das Tuch flatterte unter das Flugrad und verharrte dort schwebend, wobei es wie verrückt vibrierte. Louis nahm an, daß er ebenfalls von dieser Schallfalte aufgefangen wurde, sollte er aus dem Sattel fallen — was gar nicht einfach war —, und in aller Ruhe in sein Flugzeug zurückklettern konnte.
Es sieht ihnen ähnlich, dachte Louis. Puppenspieler…
Aus dem Trinkschlauch kam aufbereitetes Wasser. Aus dem Essensschlitz kamen rötlich-braune flache Riegel. Sechsmal hintereinander wählte er, nahm einen Bissen und warf den Riegel anschließend in den Aufnahmetrichter. Jeder Riegel schmeckte anders, und alle schmeckten gut.
Wenigstens das Essen würde nicht langweilig werden. Jedenfalls nicht so schnell.
Wenn sie allerdings keine Pflanzen und kein Wasser fanden, um die Aufnahmetrichter damit zu füttern, dann würden aus dem Essensschlitz irgendwann keine Riegel mehr kommen.
Er wählte einen siebten Riegel und aß ihn.
Der Gedanke, wie weit sie von jeder Hilfe entfernt waren, wirkte entmutigend. Bis zur Erde waren es zweihundert Lichtjahre; die Weltenflotte der Puppenspieler, nur zwei Lichtjahr weit weg, floh mit Lichtgeschwindigkeit aus der Milchstraße. Selbst die halb verdampfte Lying Bastard war vom Beginn des Fluges an unsichtbar gewesen. Jetzt verschwand auch die schnurgerade Rinne allmählich außer Sicht. Wie einfach war es, das Schiff vollkommen zu verlieren?
Tanj unmöglich, entschied Louis. Antispinwärts lag der riesigste Berg, den je ein Mensch gesehen hatte. Es konnte nicht viele derartige Supervulkane auf der Ringwelt geben. Sie mußten nur auf den Berg zuhalten, um die Lying Bastard wiederzufinden, und von dort aus spinwärts fliegen, bis sie auf eine mehrere tausend Meilen lange schnurgerade Rinne stießen.
… doch der Bogen der Ringwelt leuchtete über ihnen: drei Millionen Mal so groß wie die Erdoberfläche. Es gab genügend Raum, um sich auf der Ringwelt gründlich zu verirren.
Nessus regte sich wieder. Zuerst schob sich ein Kopf unter seinem Torso hervor, dann auch der zweite. Mit dem Mund betätigte er mehrere Schalter und flötete: »Louis, können wir uns unter vier Augen unterhalten?«
Die transparenten Bilder von Teela und Der-zu-den-Tieren-spricht erweckten den Anschein, als dösten sie. Louis schaltete sie aus dem Interkom. »Schießen Sie los.«
»Was ist inzwischen geschehen?«
»Haben Sie nicht mitgehört?«
»Meine Ohren befinden sich in meinen Köpfen. Mein Gehör war blockiert.«
»Wie fühlen Sie sich jetzt?«
»Vielleicht verfalle ich erneut in Katatonie. Ich fühle mich sehr verloren, Louis.«
»Mir geht es nicht besser. Nun gut. In den letzten drei Stunden haben wir ungefähr zweitausendzweihundert Meilen zurückgelegt. Mit Transferkabinen hätten wir das schneller geschafft. Oder mit Stepperscheiben.«
»Unsere Ingenieure hatten leider keine Gelegenheit, Scheiben aufzustellen.« Die beiden Puppenspielerköpfe blickten sich gegenseitig in das Auge. Sie behielten die Position nur einen kurzen Moment, doch Louis hatte diese Geste schon öfters beobachtet.
Vorläufig nahm er an, daß es sich um das PuppenspielerÄquivalent eines Lachens handelte. Konnte ein verrückter Puppenspieler einen Sinn für Humor entwickeln?
»Wir fliegen nach Backbord«, fuhr Louis fort. »Der-zu-den-Tierenspricht entschied, daß der backbords gelegene Randwall näher ist. Ich schätze, wir hätten das genausogut entscheiden können, indem wir eine Münze warfen. Aber Der-zu-den-Tieren-spricht ist jetzt der Boß. Er übernahm das Kommando, als Sie in Katatonie fielen.«
»Eine unglückliche Entscheidung! Sein Flugrad ist außerhalb der Reichweite meines Tasps. Ich muß…«
»Augenblick mal. Warum lassen Sie ihm denn nicht einfach das Kommando?«
»Aber… aber… aber…«
»Denken Sie drüber nach«, drängte Louis. »Sie können immer Ihr Veto einlegen, indem Sie den Tasp benutzen. Wenn Sie ihm nicht das Kommando geben, wird er es jedesmal wieder an sich reißen, wenn Sie in Katatonie fallen oder sich ausruhen. Wir brauchen einen Anführer, der nicht dauernd angefochten wird.«
»Ich vermute, es kann nicht schaden«, flötete der Puppenspieler. »Es macht kaum einen Unterschied, ob ich Hinterster bin oder er. Unsere Chancen ändern sich dadurch nicht wesentlich.«
»Richtig so. Rufen Sie den Kzin und teilen Sie ihm mit, daß er jetzt der Hinterste ist!«
Louis schaltete sich in den Interkom von Der-zu-den-Tierenspricht, um den Wortwechsel zu verfolgen. Wenn er eine heftige Diskussion erwartet hatte, so wurde er enttäuscht. Der Kzin und der Puppenspieler wechselten ein paar zischende, spuckende Phrasen in der Heldensprache, und der Kzin ging aus der Leitung.
»Ich muß mich entschuldigen«, setzte Nessus das Gespräch unter vier Augen fort. »Meine Dummheit hat uns nichts als Katastrophen eingebracht.«
»Machen Sie sich keine Vorwürfe«, tröstete ihn Louis. »Sie sind in Ihrer depressiven Phase, das ist alles.«
»Ich bin ein intelligentes Wesen und kann die Wahrheit vertragen. Ich habe mich schrecklich geirrt, was Teela Brown angeht.«
»Mag sein, aber das war nicht Ihr Fehler.«
»Doch, es war mein Fehler, Louis. Ich hätte erkennen müssen, weshalb ich Schwierigkeiten hatte, andere Kandidaten außer Teela Brown zu finden.«
»Aha?«
»Die anderen hatten zuviel Glück!«
Louis pfiff leise durch die Zähne. Der Puppenspieler hatte eine brandneue Theorie entwickelt.
»Genauer gesagt«, fuhr Nessus fort, »hatten sie zuviel Glück, um in ein so gefährliches Unternehmen wie das unsrige verwickelt zu werden. Die Geburtsrechts-Lotterie hat nämlich tatsächlich ein physisches, vererbbares Glück hervorgebracht. Nur war es für mich nicht faßbar. Als ich versuchte, mit den Lotteriefamilien Kontakt aufzunehmen, fand ich einzig und allein Teela Brown.«
»Hören Sie…«
»Ich habe die anderen nicht antreffen können, weil sie zuviel Glück hatten. Ich traf Teela Brown, und es gelang mir, sie zu dieser Expedition zu überreden, weil sie das Glück eben nicht geerbt hat. Louis, bitte entschuldigen Sie.«
»Ach, legen Sie sich lieber schlafen!«
»Ich muß mich auch bei Teela Brown entschuldigen.«
»Nein. Das war meine Schuld! Ich hätte sie aufhalten können.«