»Ich dachte, Satyrn lieben die Natur«, sagte Piper vorsichtig.
»Klar, ich liebe die Natur ja auch«, sagte Hedge. »Natur bedeutet, dass große Dinge kleine Dinge töten und fressen! Und wenn man ein – ihr wisst schon – nicht gerade groß gewachsener Satyr ist wie ich, dann sorgt man dafür, dass man gut in Form ist, nimmt sich einen dicken Stock und lässt sich von niemandem etwas gefallen. Das ist die Natur!« Hedge schnaubte wütend. »Blumenpflücker. Ich hoffe übrigens, du kochst da etwas Vegetarisches, Valdez. Fleisch esse ich nicht.«
»Sicher, Trainer Hedge. Essen Sie ja nicht Ihre Keule auf. Ich mache Tofu-Buletten. Piper ist auch Vegetarierin. Ich werfe den Kram gleich in die Pfanne.«
Der Geruch von Frikadellen füllte die Luft. Piper hasste den Geruch von gebratenem Fleisch eigentlich, aber ihr Magen knurrte, als wolle er meutern.
Ich muss mich zusammenreißen, dachte sie. An Broccoli denken. Möhren. Linsen.
Ihr Magen war nicht das Einzige, das rebellierte. Hier am Feuer, in Jasons Armen, fühlte Pipers Gewissen sich plötzlich an wie eine glühende Kugel, die sich langsam auf ihr Herz zubewegte. Alle Schuldgefühle, die sie seit der vergangenen Woche, seit der Riese Enceladus ihr den ersten Traum geschickt hatte, unterdrückte, drohten plötzlich, sie zu ersticken.
Ihre Freunde wollten ihr helfen. Jason hatte sogar gesagt, dass er in eine Falle gehen würde, um Pipers Dad zu retten. Aber Piper hatte sie abgewiesen.
Und vielleicht hatte sie ihren Vater ohnehin schon zum Tode verurteilt, als sie Medea angegriffen hatte.
Sie unterdrückte ein Schluchzen. Vielleicht hatte sie sich in Chicago richtig verhalten, als sie ihre Freunde gerettet hatte, aber damit hatte sie das Problem nur verschoben. Sie könnte nie ihre Freunde verraten, aber ein winziger Teil von ihr war verzweifelt genug, um zu denken: Und was, wenn ich es doch tue?
Sie versuchte, sich vorzustellen, was ihr Dad sagen würde. He, Dad, wenn du je von einem menschenfressenden Riesen gefesselt wirst und ich zwei Freunde verraten soll, um dich zu retten, was soll ich dann tun?
Seltsam, dass dieses Thema bei ihrem Fragespiel nie aufgetaucht war. Aber ihr Dad hätte sie natürlich sowieso niemals ernst genommen. Vermutlich hätte er ihr eine der alten Geschichten von Opa Tom erzählt – etwas über leuchtende Igel und sprechende Vögel – und dann darüber gelacht, als ob es ein blödsinniger Rat wäre.
Piper hätte gern mehr Erinnerungen an ihren Großvater. Manchmal träumte sie von dem Häuschen in Oklahoma, das nur zwei Zimmer gehabt hatte. Sie fragte sich, wie es gewesen wäre, dort aufzuwachsen.
Ihr Dad hätte sie verrückt gefunden. Er hatte sein ganzes Leben damit verbracht, von dort wegzulaufen, sich vom Reservat zu distanzieren, jede Rolle zu spielen, nur keinen Indianer. Er hatte Piper immer erzählt, was für ein Glück sie habe, dass sie reich und umsorgt aufwuchs, in einem schönen Haus in Kalifornien.
Sie hatte gelernt, sich ihrer Vorfahren irgendwie zu schämen – wie sie sich für Dads alte Filme aus den Achtzigern schämte, als er eine wogende Mähne und bescheuerte Klamotten gehabt hatte. »Kannst du dir vorstellen, dass ich wirklich mal so aussah?«, sagte er immer. Ein Cherokee zu sein war ähnlich für ihn – komisch und ein wenig peinlich.
Aber was waren sie denn sonst? Ihr Dad schien das nicht zu wissen. Vielleicht war er deshalb immer so traurig und wechselte ständig die Rollen. Vielleicht hatte Piper deshalb angefangen zu stehlen, auf der Suche nach etwas, das ihr Dad ihr nicht geben konnte.
Leo legte die Bratlinge in die Pfanne. Der Wind toste noch immer. Piper dachte an eine alte Geschichte, die ihr Dad ihr erzählt hatte … eine, die vielleicht doch einige ihrer Fragen beantwortete.
Eines Tages, in der zweiten Klasse, war sie in Tränen aufgelöst nach Hause gekommen und hatte wissen wollen, warum ihr Vater sie Piper genannt hatte. Die anderen in der Schule machten sich über sie lustig, weil Piper Cherokee ein Flugzeugtyp war.
Ihr Dad lachte, als ob er nie daran gedacht hätte. »Nein, Pipes. Schönes Flugzeug. Aber du heißt nicht deshalb so. Opa Tom hat deinen Namen ausgesucht. Als er dich zum ersten Mal weinen hörte, hat er gesagt, du hättest eine mächtige Stimme – besser als jede Rohrflöte. Er hat gesagt, du könntest bestimmt die schwierigsten Cherokeelieder singen lernen, sogar das Schlangenlied.«
»Das Schlangenlied?«
Ihr Dad erzählte ihr dann die Sage – wie eine Cherokeefrau eines Tages sah, dass ihre Kinder zu dicht bei einer Schlange spielten, und die Schlange mit einem Stein erschlug, weil sie nicht wusste, dass die der König der Klapperschlangen war. Die Schlangen rüsteten zum Krieg gegen die Menschen, aber der Mann der Frau versuchte, den Frieden zu bewahren. Er versprach, alles zu tun, um die Klapperschlangen zu entschädigen. Die Schlangen nahmen ihn beim Wort. Sie sagten, er solle seine Frau zum Brunnen schicken, damit die Schlangen sie beißen und ihr Leben im Austausch für das ihres Königs nehmen könnten. Es brach dem Mann das Herz, aber er gehorchte. Da waren die Schlangen beeindruckt, weil der Mann so viel aufgegeben und sein Versprechen gehalten hatte. Sie brachten ihm das Schlangenlied bei, das alle Cherokee lernen sollten. Wenn von da an irgendein Cherokee einer Schlange begegnete und dieses Lied sang, dann erkannte die Schlange den Cherokee als Freund und biss ihn nicht.
»Das ist doch schrecklich!«, hatte Piper gesagt. »Er hat seine Frau sterben lassen?«
Ihr Dad breitete die Hände aus. »Das war ein schweres Opfer. Aber dieses eine Leben hat für einen Generationen währenden Frieden zwischen Schlangen und Cherokee gesorgt. Opa Tom hat geglaubt, Cherokeemusik könne fast jedes Problem lösen. Er glaubte, du würdest eine Menge Lieder lernen und die größte Musikerin in der Familie werden. Deshalb haben wir dich Piper genannt.«
Ein schweres Opfer. Hatte ihr Großvater etwas über sie vorausgesehen, als sie noch ein Baby war? Hatte er gespürt, dass sie ein Kind der Aphrodite war? Ihr Dad würde sie vermutlich für verrückt erklären. Opa Tom war doch kein Orakel.
Aber dennoch … sie hatte versprochen, sich an diesem Einsatz zu beteiligen. Ihre Freunde verließen sich auf sie. Sie hatten sie gerettet, als sie von Midas in Gold verwandelt worden war. Sie hatten sie ins Leben zurückgeholt. Das durfte sie nicht mit Lügen beantworten.
Langsam wurde ihr wärmer. Sie zitterte nicht mehr und schmiegte sich an Jasons Brust. Leo verteilte das Essen. Piper wollte sich nicht bewegen, wollte nicht sprechen oder irgendetwas tun, was diesen Augenblick stören könnte. Aber es musste sein.
»Wir müssen reden.« Sie setzte sich auf, um Jason ins Gesicht blicken zu können. »Ich will euch nichts mehr verheimlichen.«
Die anderen sahen sie mit vollgestopftem Mund an. Jetzt konnte sie sich nicht mehr umentscheiden.
»Drei Nächte vor dem Ausflug zum Grand Canyon«, sagte sie, »hatte ich eine Traumvision – ein Riese sagte mir, mein Vater sei als Geisel genommen worden. Der Riese sagte, ich müsse gehorchen oder mein Dad würde getötet werden.«
Die Flammen knisterten.
Endlich sagte Jason: »War das Enceladus? Den Namen hast du schon einmal erwähnt.«
Trainer Hedge stieß einen Pfiff aus. »Riesiger Riese. Spuckt Feuer. Von dem möchte ich meinen Ziegenpapa nicht grillen lassen.«
Jason warf ihm einen Blick zu, der Klappe halten bedeuten sollte. »Piper, weiter. Was ist dann passiert?«
»Ich … ich habe versucht, meinen Dad anzurufen, aber ich bin immer nur bei seiner Assistentin gelandet, und die hat gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen.«