»Ecce«, sagte er. »Fili Romanorum.«
»Sprich Englisch, Wolfsmann!«, brüllte Hedge.
Der Wolfsmann knurrte. »Sag deinem Faun, er soll seine Zunge hüten, Sohn Roms, sonst wird er mein erster Imbiss.«
Piper wusste noch, dass »Faun« der römische Name für »Satyr« war. Nicht gerade hilfreiches Wissen. Wenn sie sich erinnern könnte, wer dieser Wolfskerl in der griechischen Mythologie war und wie er besiegt werden könnte, das wäre schon eher eine Hilfe.
Der Wolfsmann musterte die kleine Gruppe. Seine Nasenlöcher zuckten. »Es stimmt also«, sagte er nachdenklich. »Ein Kind der Aphrodite. Ein Sohn des Hephaistos. Ein Faun. Und ein Kind Roms, vom Herrn Jupiter gar. Alle zusammen, ohne sich gegenseitig umzubringen. Wie interessant.«
»Ihr habt von uns gehört?«, fragte Jason. »Von wem?«
Der Mann knurrte – vielleicht sollte es ein Lachen sein, vielleicht auch eine Herausforderung.
»Wir durchkämmen den ganzen Westen nach euch, Halbgott, und hatten gehofft, euch als Erste zu finden. Der König der Riesen wird mich reich belohnen, wenn er sich erhebt. Ich bin Lycaon, der König der Wölfe. Und meine Meute hat Hunger.«
Die Wölfe knurrten in der Dunkelheit.
Aus dem Augenwinkel sah Piper, wie Leo seinen Hammer hob und etwas aus seinem Werkzeuggürtel nahm – eine mit einer klaren Flüssigkeit gefüllte Glasflasche.
Piper zerbrach sich den Kopf über den Namen des Wolfsmannes. Sie wusste, dass sie ihn schon mal gehört hatte, aber sie konnte sich einfach nicht erinnern.
Lycaon starrte wütend Jasons Schwert an. Er trat zur Seite, wie auf der Suche nach einer Öffnung, aber Jasons Klinge bewegte sich mit ihm.
»Geht«, befahl Jason. »Hier gibt es für Euch nichts zu holen.«
»Es sei denn, Ihr wollt Tofu-Burger«, sagte Leo hilfsbereit.
Lycaon bleckte die Zähne. Offenbar aß er nicht so gern Tofu.
»Wenn es nach mir ginge«, sagte Lycaon bedauernd, »würde ich dich zuerst töten, Sohn des Jupiter. Dein Vater hat mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin. Ich war der sterbliche mächtige König von Arkadien, mit fünfzig Söhnen, und Zeus hat sie alle mit seinen Blitzen erschlagen.«
»Ha«, sagte Trainer Hedge. »Mit gutem Grund!«
Jason schaute sich über die Schulter um. »Trainer Hedge, kennen Sie diesen Clown?«
»Ich kenne ihn«, antwortete Piper. Jetzt fielen ihr die Einzelheiten der Sage wieder ein – eine kurze schreckliche Geschichte, über die sie und ihr Vater beim Frühstück gelacht hatten. Jetzt lachte sie nicht mehr.
»Lycaon hatte Zeus zum Gastmahl geladen«, sagte sie. »Aber der König war nicht sicher, ob es wirklich Zeus war. Um ihn auf die Probe zu stellen, versuchte Lycaon deshalb, ihm Menschenfleisch vorzusetzen. Zeus war außer sich vor Wut.«
»Und tötete meine Söhne!«, heulte Lycaon. Die Wölfe hinter ihm heulten ebenfalls.
»Deshalb hat Zeus ihn in einen Wolf verwandelt«, sagte Piper. »Werwölfe … Werwölfe werden auch Lycanthropoi genannt, nach ihm, dem ersten Werwolf.«
»Der König der Wölfe«, fügte Trainer Hedge hinzu. »Ein unsterblicher, stinkender, bissiger Köter.«
Lycaon knurrte. »Ich werde dich in Stücke reißen, Faun!«
»Ach, Ziege willst du, Kumpel? Ziege kannst du kriegen.«
»Aufhören«, sagte Jason. »Lycaon, Ihr habt gesagt, Ihr wolltet mich zuerst umbringen, aber …«
»Leider, Kind Roms, bist du versprochen. Weil die da«, er richtete die Klauen auf Piper, »dich nicht umgebracht hat, sollst du lebend im Wolfshaus abgeliefert werden. Eine meiner Landsleute hat um die Ehre gebeten, dich eigenhändig töten zu dürfen.«
»Wer?«, fragte Jason.
Der Wolfskönig kicherte. »Ach, eine große Bewunderin von dir. Offenbar hast du sie gewaltig beeindruckt. Sie wird sich bald mit dir befassen und ich will mich nicht darüber beschweren. Dein Blut im Wolfshaus zu vergießen müsste mein neues Revier sehr gut markieren. Lupa wird sich die Sache sehr genau überlegen, ehe sie meine Meute angreift.«
Pipers Herz wollte ihr aus der Brust springen. Sie begriff nicht alles, was Lycaon gesagt hatte, aber eine Frau, die Jason töten wollte? Medea, dachte sie. Auf irgendeine Weise musste sie die Explosion überlebt haben.
Piper kam mühsam auf die Füße. Wieder tanzten schwarze Flecken vor ihren Augen. Die Höhle schien sich zu drehen.
»Geh jetzt«, sagte Piper, »ehe wir dich vernichten.«
Sie versuchte, Kraft in ihre Worte zu legen, aber sie war zu schwach. Sie zitterte in ihren Decken, war blass und schweißnass und konnte kaum ein Messer halten; sie sah garantiert nicht sonderlich bedrohlich aus.
Lycaons rote Augen bekamen Lachfältchen. »Tapferer Versuch, Mädchen. Meinen Respekt. Vielleicht schenke ich dir ein schnelles Ende. Nur der Sohn des Jupiter wird lebend benötigt. Ihr anderen, fürchte ich, endet als Abendessen.«
In diesem Moment wusste Piper, dass sie sterben würde. Aber immerhin würde sie im Stehen sterben, während sie neben Jason kämpfte.
Jason trat einen Schritt vor. »Du wirst hier niemanden töten, Wolfsmann. Nur über meine Leiche.«
Lycaon heulte auf und fuhr die Krallen aus. Jason schlug nach ihm, aber sein goldenes Schwert durchschnitt die Luft, als sei der Wolfskönig gar nicht vorhanden.
Lycaon lachte. »Gold, Bronze, Stahl – das alles hilft nichts gegen meine Wölfe, Sohn des Jupiter.«
»Silber!«, rief Piper. »Können Werwölfe nicht durch Silber erlegt werden?«
»Wir haben kein Silber«, sagte Jason.
Die Wölfe sprangen in den Feuerschein. Hedge schoss mit einem begeisterten »Auf sie!« vor.
Aber Leo schlug als Erster zu. Er warf seine Glasflasche. Sie zerbrach auf dem Boden und ihr Inhalt bespritzte alle Wölfe – mit dem unverkennbaren Geruch von Benzin. Leo warf eine Handvoll Feuer auf die Lache und eine Flammenwand loderte auf.
Die Wölfe fiepten jämmerlich und zogen sich zurück. Mehrere fingen Feuer und mussten sich in den Schnee retten. Sogar Lycaon musterte besorgt die Barriere aus Flammen, die jetzt seine Wölfe von den Halbgöttern trennte.
»Hör auf damit!«, beschwerte sich Trainer Hedge. »Ich kann sie dahinter doch nicht erledigen!« Immer wenn ein Wolf näher kam, ließ Leo eine neue Flammenwelle von seinen Händen aufflackern, aber jeder Einsatz ließ ihn ein wenig erschöpfter zurück und das Benzin fing schon an zu versiegen. »Ich kann nicht noch mehr Stoff beschaffen!«, warnte Leo. Dann wurde er rot. »Ich meine natürlich die brennende Sorte. Der Werkzeuggürtel wird eine ganze Zeit brauchen, um sich neu aufzufüllen. Was hast du noch zu bieten, Mann?«
»Nichts«, sagte Jason. »Nicht einmal eine funktionierende Waffe.«
»Blitze?«, fragte Piper.
Jasons konzentrierte sich, aber nichts passierte. »Ich glaube, der Schneesturm stört den Empfang oder so was.«
»Lass die Venti frei«, sagte Piper.
»Dann haben wir nichts für Aeolus«, sagte Jason. »Und sind den ganzen Weg umsonst gekommen.«
Lycaon lachte. »Ich kann eure Angst riechen. Nur noch ein paar Minuten Leben, Helden. Betet, egal zu welchem Gott. Zeus hatte keine Gnade für mich und ihr könnt keine von mir erwarten.«
Die Flammen erloschen nach und nach. Jason stieß einen Fluch aus und ließ sein Schwert sinken. Er ging in die Hocke, wie vor einem Ringkampf. Leo zog den Hammer aus dem Rucksack. Piper hob ihren Dolch – das war nicht viel, aber mehr hatte sie nicht. Trainer Hedge schwenkte seine Keule und sah als Einziger erfreut über die Möglichkeit aus, gleich zu sterben.
Dann durchdrang ein Geräusch das Heulen des Windes – als werde ein Stück Pappe zerrissen. Ein langer Stab ragte aus dem Hals des nächststehenden Wolfes – der Schaft eines silbernen Pfeils. Der Wolf wand sich, ging zu Boden und zerfloss zu einer Lache aus Schatten.