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Noch mehr Pfeile. Weitere Wölfe fielen. Die Meute sprengte vor Verwirrung auseinander. Ein Pfeil schoss auf Lycaon zu, aber der Wolfskönig fing ihn in der Luft ab. Dann schrie er vor Schmerz auf. Er ließ den Pfeil fallen, und der hinterließ eine verkohlte, rauchende Wunde in seiner Handfläche. Ein weiterer Pfeil traf seine Schulter und der Wolfskönig geriet ins Taumeln.

»Seid verflucht!«, schrie Lycaon. Er knurrte seine Meute an und die Wölfe machten kehrt und rannten los. Lycaon starrte Jason aus seinen leuchtend roten Augen an. »Das war noch nicht mein letztes Wort, Junge.«

Der Wolfskönig verschwand in der Nacht.

Sekunden darauf hörte Piper wieder Wolfsgeheul, aber diesmal klang es anders – weniger bedrohlich, eher wie Jagdhunde, die eine Witterung aufgenommen haben. Ein kleinerer weißer Wolf kam in die Höhle gerannt, gefolgt von zwei weiteren.

»Plattmachen?«, fragte Hedge.

»Nein!«, sagte Piper. »Warten Sie!«

Die Wölfe legten die Köpfe schräg und musterten die Menschen aus riesigen goldenen Augen.

Einen Herzschlag darauf erschienen die Herrinnen der Wölfe; eine Schar von Jägerinnen in grauweißer winterlicher Tarnkleidung, mindestens ein halbes Dutzend. Jede trug einen Bogen und einen Köcher voller leuchtender silberner Pfeile im Rücken.

Ihre Gesichter waren in ihren Kapuzen versteckt, aber es waren eindeutig Mädchen. Eine war ein wenig größer als die anderen, sie ging im Feuerschein in die Hocke und hob den Pfeil auf, der Lycaons Hand verletzt hatte.

»So dicht dran.« Sie drehte sich zu ihren Begleiterinnen um. »Phoebe, du bleibst bei mir. Pass auf den Eingang auf. Ihr anderen folgt Lycaon. Wir dürfen ihn jetzt nicht verlieren. Ich hole euch dann ein.«

Die anderen Jägerinnen murmelten Zustimmung und verschwanden auf der Suche nach Lycaons Meute.

Die Frau in Weiß drehte sich zu ihnen um, ihr Gesicht war noch immer unter ihrer Kapuze versteckt. »Wir folgen den Spuren dieses Dämons jetzt schon seit über einer Woche. Geht es euch allen gut? Niemand gebissen worden?«

Jason stand wie erstarrt da und sah das Mädchen an. Piper kam irgendetwas an ihrer Stimme bekannt vor. Sie konnte es nicht richtig erklären, aber die Art, wie das Mädchen sprach, wie sie ihre Wörter formte, erinnerte sie an Jason.

»Du bist es«, riet Piper. »Du bist Thalia.«

Das Mädchen erstarrte ebenfalls. Piper hatte schon Angst, sie würde ihren Bogen ziehen, aber stattdessen streifte sie sich die Kapuze vom Kopf. Ihre Haare waren stachelig und schwarz und sie trug einen silbernen Reif um die Stirn. Ihr Gesicht leuchtete irgendwie, als sei sie mehr als nur menschlich, und ihre Augen waren strahlend blau. Sie war das Mädchen von Jasons Foto.

»Kennen wir uns?«, fragte Thalia.

Piper holte tief Atem. »Das ist jetzt vielleicht ein Schock, aber …«

»Thalia.« Jason trat vor und seine Stimme zitterte. »Ich bin Jason, dein Bruder.«

XXXV

Leo

Leo fand, dass er das schlechteste Los von ihnen allen hatte, und das hieß eine ganze Menge. Warum durfte nicht er eine lange vermisste Schwester haben oder einen Filmstar-Dad, der gerettet werden musste? Er hatte nur einen Werkzeuggürtel und einen Drachen, der auf halbem Weg seinen Geist aufgegeben hatte. Vielleicht war das ja der blöde Fluch der Hephaistos-Hütte, aber Leo glaubte das nicht. Er war auch schon vom Pech verfolgt gewesen, ehe er ins Camp gekommen war.

In tausend Jahren, wenn an einem Lagerfeuer von diesem Einsatz erzählt würde, dann wäre bestimmt die Rede vom tapferen Jason, der schönen Piper und ihrem Handlanger Flammen-Valdez, der sie mit einem Beutel voller magischer Schraubenzieher begleitete und ab und zu Tofuburger lieferte.

Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, verliebte Leo sich in jedes Mädchen, das ihm über den Weg lief – solange sie für ihn absolut nicht erreichbar war.

Als er Thalia sah, dachte Leo sofort, dass sie viel zu hübsch war, um Jasons Schwester zu sein. Ihm gefielen ihre dunklen Haare, ihre blauen Augen und ihre selbstsichere Haltung. Sie sah aus wie die Art Mädchen, die auf dem Sportplatz oder dem Schlachtfeld alle fertigmachen und Leo nicht einmal grüßen würden – genau Leos Typ!

Eine Minute lang sahen Jason und Thalia einander verwirrt an. Dann stürzte Thalia auf ihn zu und umarmte ihn.

»Bei den Göttern! Sie hat mir gesagt, du seist tot!« Sie umfasste Jasons Gesicht und schien jedes Detail zu mustern. »Artemis sei Dank, du bist es. Diese kleine Narbe auf deiner Lippe – mit zwei Jahren hast du versucht, einen Tacker zu essen!«

Leo lachte. »Echt?«

Hedge nickte, als sei er mit Jasons Geschmack sehr einverstanden. »Tacker – hervorragende Eisenquelle.«

»Moment«, stammelte Jason. »Wer hat dir gesagt, ich sei tot? Was ist passiert?«

Einer der weißen Wölfe am Höhleneingang bellte. Thalia schaute sich zu ihm um und nickte, ließ die Hände aber um Jasons Gesicht liegen, als fürchte sie, er könne verschwinden. »Meine Wölfin sagt mir, dass ich nicht viel Zeit habe, und sie hat Recht. Aber wir müssen reden. Setzen wir uns.«

Piper tat noch mehr als das. Sie brach zusammen. Wenn Hedge sie nicht aufgefangen hätte, wäre sie mit dem Kopf auf den Höhlenboden geknallt.

Thalia stürzte zu ihr. »Was ist los mit ihr? Ah. Ich sehe schon. Unterkühlung. Knöchel.« Sie sah den Satyrn stirnrunzelnd an. »Hast du keine Ahnung von Naturheilverfahren?«

Hedge schnaubte. »Was glaubst du wohl, warum sie so gut aussieht? Riechst du das Gatorade nicht?«

Thalia sah Leo zum ersten Mal an, und natürlich war es ein vorwurfsvolles Starren, als wolle sie sagen: »Warum hast du den Bock zum Doktor gemacht?« Als ob es Leos Schuld gewesen wäre.

»Du und der Satyr«, befahl Thalia. »Bringt das Mädchen zu meiner Freundin am Höhleneingang. Phoebe ist eine hervorragende Heilerin.«

»Da ist es kalt!«, sagte Hedge. »Ich frier mir die Hörner ab!«

Aber Leo wusste, wann er nicht erwünscht war. »Kommen Sie schon, Hedge. Die beiden brauchen Zeit zum Reden.«

»Hmpf. Na gut«, murmelte der Satyr. »Hab nicht mal jemandem den Schädel einschlagen können.«

Hedge trug Piper zum Eingang. Leo wollte schon hinterher, als Jason rief: »Hey, Mann, könntest du, äh, vielleicht hier sitzenbleiben?«

Leo sah in Jasons Augen etwas, das er nicht erwartet hatte: Jason bat um Hilfe. Er wollte nicht allein bleiben. Er hatte Angst.

»Sitzenbleiben ist meine Spezialität.«

Thalia schien das nicht so toll zu finden, aber die drei setzten sich ans Feuer. Einige Minuten lang schwiegen sie. Jason musterte seine Schwester wie einen bedrohlichen Gegenstand, der bei unsachgemäßer Behandlung explodieren könnte. Thalia schien weniger angespannt, als sei sie seltsamere Dinge gewöhnt als lange vermisste Verwandte. Aber noch immer musterte sie Jason in einer Art von überraschter Trance, vielleicht erinnerte sie sich an einen Zweijährigen, der einen Tacker zu verspeisen versuchte. Leo zog einige Stücke Kupferdraht aus der Tasche und drehte sie umeinander.

Endlich konnte er das Schweigen nicht mehr ertragen. »Also … die Jägerinnen der Artemis. Diese ganze Kiste mit dem Leben ohne Jungs – gilt das für immer oder ist das eine Phase oder so?«

Thalia starrte ihn an, als ob er sich eben aus Kloakenschaum erhoben hätte. Er fand dieses Mädchen einfach wunderbar.

Jason trat ihm vors Schienbein. »Kümmer dich nicht um Leo. Der versucht nur, das Eis zu brechen. Aber Thalia … was ist aus unserer Familie geworden? Wer hat dir gesagt, ich sei tot?«

Thalia zupfte an einem silbernen Armband um ihr Handgelenk. Im Feuerschein, in ihrer winterlichen Tarnkleidung, sah sie fast aus wie Chione die Schneeprinzessin – ebenso kalt und schön.

»Kannst du dich an irgendwas erinnern?«, fragte sie.

Jason schüttelte den Kopf. »Ich bin vor drei Tagen bei Leo und Piper in einem Bus zu mir gekommen.«