Sie nickte.
»Und er hat meine Mutter geheiratet - vor einer Menge Zeugen.« (Mißbilligender Zeugen, aber sei’s drum.)
Die Auskunft schien sie nicht zu freuen.
»Wäre es Ihnen lieber, Usher Rudd hätte recht?« fragte ich. »Weil Sie dann meinen Vater ausschalten könnten?«
»Alderney Wyvern meint, dazu gehört mehr als ein Lügenmärchen von Usher Rudd. Da muß man schon was in der Hand haben.«
Sie hörte sich völlig verbittert an. So hoch Polly auch mein Einfühlungsvermögen und meine Fähigkeit, die Verkrampfungen anderer zu lösen, einschätzte, Orindas tiefsitzender Groll gegen meinen Vater machte mich hilflos.
»Jemand hat auf ihn geschossen«, sagte ich.
Orinda schüttelte den Kopf. »Auch wieder gelogen.«
»Ich war dabei«, wandte ich ein.
»Alderney auch«, sagte sie. »Er hat alles gesehen. George Juliard ist auf dem Pflaster gestolpert, dann hat irgendwer aus Übermut einen Schuß abgefeuert, und Juliard hat behauptet, der hätte ihm gegolten! Völliger Blödsinn. Für Publicity tut der doch alles.«
Eins war mir klar: Orinda selbst würde sich niemals unter ein Auto legen und eine Ablaßschraube losdrehen. Wie vorsichtig man das auch anfing, man bekam auf jeden Fall Öl ab, bevor man die Öffnung mit einer Kerze verschließen konnte. Selbst wenn sie wußte, wo die Schraube saß und wie man sie losdrehte, Motoröl war mit Orindas Kleidern unter keinen Hut zu bringen.
Orinda brauchte eine Brille zum Lesen des Rennprogramms: wie sollte sie da ein Präzisionsgewehr handhaben können? Möglich, daß sie meinem Vater den Tod wünschte, aber ihn umzubringen, dazu war sie nicht fähig, und sie glaubte nicht, daß jemand anders es versucht hatte.
Orinda, dachte ich, hatte niemanden bezahlt oder beauftragt, ihren Rivalen gewaltsam aus dem Weg zu räumen. Ihr Haß hatte Grenzen.
Ich ging mit ihr über die Bahn, um beim zweiten Rennen nahe bei einem Hindernis zu stehen, damit sie wenigstens einen Eindruck von der Geschwindigkeit bekam. Zu ihrem Verdruß blieb sie mit den hohen Absätzen ihrer Schuhe immer wieder im Rasen stecken. Ein ziemlich mißlungener Nachmittag, sagte ich mir deprimiert.
Dennoch war sie beeindruckt vom Gedonner und von der Energie der zehn Zentner schweren Pferdeleiber, die da durch das schwarze Reisig wischten, und sie hörte die Jockeys mit ihren Kontrahenten und ihren Pferden schreien, sah die gestrafften Muskeln ihrer Beine unter den weißen Hosen, die Rennfarben, die in der Augustsonne leuchteten. Man sah ihr - ob sie das wollte oder nicht - an, daß sie nun auch verstand, was den Duke und alle anderen, die den Weg hierher auf sich genommen hatten, an solchen Rennen faszinierte.
Als die Pferde zum zweiten Mal an uns vorbeigefegt waren und auf die Zielgerade gingen - die Luft vibrierte noch von ihnen -, sagte ich: »Ich kann verstehen, wie nahe es Ihnen geht, daß der Wahlausschuß Sie übergangen hat.«
»Ausgeschlossen«, versetzte Orinda unfreundlich. »Dazu sind Sie viel zu jung.«
Fast verzweifelt sagte ich: »Sie haben nicht bekommen, was Sie sich am meisten gewünscht haben, und das ist ein schwerer Schlag. Sie hatten ein Leben vor sich gesehen, das Ihnen jeden Tag Freude und Erfüllung bringt, das Ihnen die Kraft gibt, Ihre kühnsten Träume zu verwirklichen, und jetzt ist es aus damit. Pustekuchen, hat man Ihnen gesagt. Das tut furchtbar weh. Glauben Sie mir, ich kenne das.«
Sie starrte mich mit ihren großen grünen Augen an.
»Dazu muß man nicht alt sein«, sagte ich. »Den Schmerz kann schon ein Sechsjähriger empfinden, der sich von Herzen ein Pony wünscht, für das kein Platz da ist, so daß ein Kauf gar nicht in Frage kommt. Und ich ...« Ich schluckte. Statt wieder zu schweigen, fand ich den Mut, es auszusprechen. »Ich wollte das hier.« Mit einer Armbewegung umfing ich das dunkle Hindernis, die ganze weite Rennbahn. »Das alles. Ich wollte Jockey werden, seit ich denken kann. Von klein auf war ich überzeugt, daß ich das mal werde. Ich habe darauf vertraut und war mir meiner Zukunft sicher ... Tja, und seit ein paar Tagen ist es aus damit. Man hat mir gesagt, daß das für mich kein Leben ist, weil es mit meiner Reitkunst nicht weit her ist, weil ich nicht das Zeug habe, der Jockey zu werden, der ich gern wäre. Der Trainer, für den ich geritten bin, hat mich weggeschickt. Mein Vater will mich unterstützen, wenn ich studiere, aber nicht, wenn ich meine Zeit mit Pferderennen vertue, ohne zu glänzen. Daran knabbere ich immer noch. Als ich heute herkam, habe ich nicht geahnt, wie schlimm das wird ... aber mir ist zum Schreien, ich möchte aus der Haut fahren, und wenn Sie glauben, so wie Sie könnte nur jemand empfinden, der alt genug ist, um meine Mutter zu sein, dann haben Sie sich geirrt.«
Kapitel 6
Am Ende des Nachmittags fuhr ich den Range Rover trübsinnig zurück zu Pollys Haus im Wald und hatte das Gefühl, ihre Hoffnungen enttäuscht und nicht nur eine einmalige Gelegenheit verpaßt, sondern alles nur noch schlimmer gemacht zu haben.
Als ich endlich mit Orinda (deren Absätze öfter denn je stek-kenblieben) zur Tribüne zurückgekehrt und in die Loge der Rennleitung hinauf gelangt war, hatte den Duke bereits wieder die Pflicht gerufen. Orinda verfolgte das dritte Rennen vom Balkon vor dem Speiseraum aus, drehte mir unbarmherzig den Rücken zu und verbat sich jede Unterhaltung.
Es siegte ein Pferd mit sieben Pfund Aufgewicht. Orinda hatte es nicht gewettet.
Als der Duke herzlich lächelnd wieder heraufkam, dankte sie ihm liebenswürdig für seine Gastfreundschaft und verabschiedete sich. Meinen Vater, Polly und mich würdigte sie dabei keines Wortes und keines Blickes, und ich wünschte mir die drei letzten, tapfer ertragenen Rennen hindurch, ich wäre kleiner, reicher und mit Genie gesegnet. Die vielen Möglichkeiten, die mir offenstanden, erschienen mir dürftig gegenüber dem unerfüllbaren Wunschtraum.
Als Polly uns nun einlud, ins Haus zu kommen, nahm mein Vater sofort an.
»Kopf hoch«, kommentierte er mein mürrisches Schweigen. »Man kann nicht immer nur gewinnen. Sag was. Du kriegst seit Stunden den Mund nicht auf.«
»Also gut . Orinda hat gesagt, Usher Rudd hält mich für deinen Buhlknaben.«
Mein Vater prustete in den Gin, den Polly ihm eingeschenkt hatte.
»Was ist denn ein Buhlknabe?« fragte Polly, mein Vater wußte es.
Ich sagte: »Usher Rudd will nachweisen, daß ich nicht dein Sohn bin. Wenn du eine Heiratsurkunde hast, leg sie in ein Bankfach.«
»Und deine Geburtsurkunde, wo ist die?«
»Bei meinem Zeug bei Mrs. Wells.«
Er runzelte die Stirn. Meine Sachen waren mir noch nicht gebracht worden. Sofort bat er Polly, telefonieren zu dürfen, und rief meine Vermieterin an. »Sie hat alles bereitgestellt«, berichtete er, »aber der Spediteur, den ich bestellt habe, war noch nicht da. Muß ich am Montag nachhaken.«
»Mein Fahrrad steht noch im Rennstall.«
Das erinnerte ihn zwar daran, wie rücksichtslos er sich über meine Ambitionen hinweggesetzt hatte, aber er erwartete offensichtlich nach wie vor, daß ich erwachsen wurde und mich mit den Tatsachen abfand.
»Komm drüber weg«, sagte er.
»Ja.«
Polly blickte von mir zu ihm und sagte: »Der Junge tut für Sie, was er kann, George.«
Wir fuhren ohne sie weiter nach Hoopwestern, und langsam gewöhnte ich mich an den Allradantrieb, das Gewicht und die Größe des Range Rovers. Ich brachte meinen Vater (nach Mer-vyns Wegbeschreibung) zu einem Gemeindesaal, wo er sich mit einem kleinen Heer von Wahlhelfern aus der gesamten Region treffen sollte. Die Wahlhelfer hatten ihre Familien und Freunde mitgebracht, aber auch Tee, Bier, Wein und Kuchen, damit alle zu essen und zu trinken hatten, während sie sich vom unerschöpflichen Kampfgeist meines Vaters anstecken ließen und Energie für die nächsten drei Wochen tankten.
»Mein Sohn ... das ist mein Sohn.« Immer wieder stellte er mich vor, und ich drückte Hände, lächelte in einem fort, plauderte mit alten Damen, unterhielt mich zurückhaltend über Fußball und zerknirscht über Pferderennen.