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Ohne sein Einverständnis abzuwarten, eilte ich in das lange, schmale Versicherungsbüro und holte den Umzugskarton unter meinem Schreibtisch hervor. Ich hatte ihn noch nicht in meine renovierte Wohnung zurückgeschafft, die sonst gleich wieder so vollgestopft wie vorher gewesen wäre. Irgendwo in dem Karton lagen die Hochzeitsfotos meines Vaters mit Gattin eins und zwei.

Im Rahmen hinter der Aufnahme von ihm und Polly steckte der Brief von Vivian Durridge, frisch und sauber wie am Tag seiner Ankunft. Vorsichtshalber machte ich gleich mehrere Kopien davon, die ich in einer von vielen hundert Akten versteckte, und ging mit dem Original zum Direktor.

Fair, wie er war, hatte er die Empfehlung, die Sir Vivian ihnen spontan geschickt hatte, schon herausgesucht. Sie lag auf dem aufgeschlagenen Magazin.

Ich gab ihm den Brief, den er zweimal durchlas.

»Setzen Sie sich«, sagte er und wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Erzählen Sie mir, was an dem Tag los war, als Sir Vivian Durridge Sie beschuldigt hat, Drogen zu nehmen.«

»Vor fünf Jahren« - es schien eine Ewigkeit her - »wollte mein Vater, wie es in dem Brief steht, mich zu der Einsicht bringen, daß aus mir nie ein Spitzenjockey wird.«

Ich erzählte dem Direktor von der Limousine mit Chauffeur und dem Strandhotel in Brighton. Ich erzählte ihm, daß mein Vater mich gebeten hatte, auf Familie zu machen, um ihn im Wahlkampf zu unterstützen.

Der Direktor hörte zu und fragte schließlich: »Wer hat außer Ihnen und Ihrem Vater noch von Vivian Durridges Drogenvorwurf gewußt?«

»Das ist es ja gerade«, sagte ich langsam. »Ich habe es bestimmt keinem erzählt, und daß mein Vater es erzählt hat, glaube ich auch nicht. Geben Sie mir Gelegenheit, es herauszufinden?«

Er schaute noch einmal auf den Brief, auf die Empfehlung, auf den bösartigen, verleumderischen Magazinartikel und kam zu einem Entschluß. »Ich gebe Ihnen eine Woche«, sagte er. »Zehn Tage. Solange es eben dauert. Bevor Sie kamen, war Evan hier der Stellvertreter eines Versicherungsfachmanns, der jetzt im Vorstand sitzt. Er wird Ihre Aufgaben übernehmen, bis Sie wieder da sind.«

Ich war dankbar und sprachlos angesichts seiner Großzügigkeit. Er entließ mich mit einer Handbewegung zur Tür hin, und als ich mich im Hinausgehen noch einmal umdrehte, sah ich, wie er das Magazin, den Brief und die Empfehlung in eine Schreibtischlade einschloß.

Bei mir im Büro klingelte das Telefon. »Was zum Teufel ist da los?« sagte die Stimme meines Vaters. »Hat Vivian Durridge den Verstand verloren? Ich kriege ihn nicht ans Telefon.«

Er konnte ihn nicht ans Telefon kriegen, weil Vivian Durridge, wie ich drei Stunden später herausfand, nicht zu Hause war.

Der Kies in der Zufahrt war sauber geharkt. Der säulengetragene Vorbau der Villa deutete wie früher auf Wohlstand, aber auf mein Klingeln kam niemand zur Tür.

In seinem Stallhof standen keine Pferde, doch der Futtermeister, der in einer Kate nebenan wohnte, werkelte draußen herum.

Er erkannte mich auf Anhieb, obwohl ich vor über fünf Jahren fortgegangen war.

»Tja, Ben«, er kratzte sich am Kopf, »hätte ich nicht gedacht, daß Sie Drogen nehmen.«

Er war klein, alt und säbelbeinig und hatte die ihm anvertrauten großen Tiere ebenso geliebt wie sie ihn. Er war ganz für sie dagewesen, und jetzt, ohne sie, fehlte seinem Leben der Halt, der Sinn, hatte er nichts mehr als die verblassende Erinnerung an vergangene Siege.

»Ich habe nie Drogen genommen.«

»Wäre ich auch nicht drauf gekommen, aber wenn Sir Vivian es sagt ...«

»Wo steckt er?« fragte ich. »Wissen Sie das?«

»Er ist doch krank.«

»Krank?«

»Er ist nicht mehr bei sich, der Ärmste. Eines Abends war er mit mir auf Stallkontrolle wie sonst auch, da greift er sich auf einmal an den Kopf und fällt um, und ich hab den Tierarzt gerufen -«

»Den Tierarzt?«

»In der Sattelkammer war ein Telefon, und vom Tierarzt wußte ich die Nummer.« Der Futtermeister schüttelte sein altes Haupt. »Jedenfalls kam der Tierarzt und mit ihm der Arzt, und sie meinten, Sir Vivian hätte einen Schlag bekommen oder so was. Ein Krankenwagen hat ihn abgeholt, und seine Familie wollte nicht, daß man ihm einen Dachschaden nachsagt, dem Ärmsten, aber trainieren konnte er nicht mehr, deshalb haben sie allen erzählt, er hätte sich zur Ruhe gesetzt.«

Ich ging mit dem großartigen Futtermeister von einst durch den Hof und ließ mir erzählen, was für tolle Sieger in den jetzt verlassenen Boxen gestanden hatten.

Alle Besitzer seien gebeten worden, ihre Pferde abzuholen und vorübergehend woanders trainieren zu lassen, sagte er, aber Wochen seien vergangen, und jetzt stehe fest, daß der Alte doch nicht wiederkomme, und nichts werde mehr so sein wie früher.

»Aber«, fragte ich sanft, »wo ist denn Sir Vivian im Augenblick?«

»Im Pflegeheim«, sagte er einfach.

Ich fand das Pflegeheim. Auf einem Schild davor stand: »Haven House«. Sir Vivian saß im Rollstuhl; glatte Haut, leerer Blick, wärmende Decke über den Knien.

»Er ist verwirrt. Er erkennt niemanden«, warnten mich die Schwestern; aber mochte er mich auch nicht erkennen, er schwätzte drauflos.

»Du liebe Zeit, ja«, sagte er mit einer hohen Stimme, die von seinem vertrauten Geknatter weit entfernt war. »Klar erinnere ich mich an Benedict Juliard. Er wollte Jockey werden, aber nicht mit mir, bitte schön! Ich konnte keinen gebrauchen, der Leim schnüffelt.«

Sir Vivians Augen waren weit geöffnet und ohne Falsch. Ich sah ihm an, daß er jetzt die Geschichte glaubte, die er meinem Vater zuliebe erfunden hatte. Mir war klar, daß er künftig bei dieser Version meiner Kündigung bleiben würde, weil er sie wirklich für wahr hielt.

»Haben Sie selbst gesehen«, fragte ich, »daß Benedict Juliard Leim geschnüffelt, gekokst oder sonst etwas genommen hat?«

»Ich weiß das aus zuverlässiger Quelle«, sagte er.

Mit fünf Jahren Verspätung fragte ich ihn: »Von wem denn?«

»Hm? Wie, von wem? Von mir natürlich.«

Ich versuchte es noch einmal. »Hat Ihnen jemand erzählt, Benedict Juliard sei drogensüchtig? Und wenn ja, wer hat es Ihnen erzählt?«

Die Intelligenz, die Durridge einmal ausgezeichnet hatte, die Weltklugheit, für die er im Rennsport seit jeher bekannt war, der

Durchblick und das klare Urteil waren ausgelöscht durch eine verhängnisvolle Blutung irgendwo in einem Winkel dieses brillanten Kopfes. Sir Vivian Durridge gab es nicht mehr. Ich sprach mit der leeren Hülle, dem Chaos. Es war nicht zu hoffen, daß er sich je wieder genau an etwas erinnerte, aber man würde ihm alles mögliche einreden können.

Ich blieb eine Weile bei ihm sitzen, da er anscheinend gern Gesellschaft hatte, und obwohl er nicht wußte, wer ich war, wollte er nicht, daß ich ging.

Die Schwester meinte: »Es beruhigt ihn, wenn jemand bei ihm ist. Er war mal sehr bekannt. Und Sie sind schon der zweite außerhalb der Familie, der ihn in letzter Zeit besucht hat. Über Besuch freut er sich immer.«

»Wer war denn noch da?« fragte ich.

»Ein netter junger Mann. Rote Haare. Sommersprossen. So freundlich wie Sie. Ein Journalist, sagte er. Er hat Sir Vivian nach einem Benedict Juliard gefragt, der mal für ihn geritten war. Ach du meine Güte!« - überrascht hielt sich die Schwester den Mund zu. »Haben Sie nicht gesagt, Sie sind Benedict Juli-ard?«

»Doch. Was könnte man Sir Vivian denn schenken, was er noch nicht hat?«

Die Schwester meinte kichernd: »Schokoladenkekse und Gin hätte er gern, aber eigentlich ist ihm beides verboten.«

»Gönnen Sie’s ihm.«

Ich gab ihr Geld. Vivian Durridge saß in seinem Rollstuhl und wußte nicht, um was es ging.

Ich rief meinen Vater an.

»Die Leute glauben, was sie glauben wollen«, sagte ich. »Hudson Hurst wird glauben wollen, daß dein Sohn drogensüchtig ist, und er wird herumlaufen und deinen Kollegen verbraten, daß du deshalb nicht zum Premierminister taugst. Weißt du noch, wie ich unseren Pakt damals gefaßt habe ... daß ich alles tun will, um dich vor Angriffen zu schützen?«