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Der Empfang dieses Briefes bewog den Doktor, mit dem Knaben zu sprechen und ihn selber zu fragen, für welchen der ihm freistehenden Berufe er sich entscheide. Er war zugleich überzeugt, daß der Knabe die Wahl dem Urteil seines Pflegevaters anheimstellen werde.

Vorher jedoch hatte er die unangenehme Pflicht, Richard Middlemas in die geheimnisvollen Umstände seiner Geburt einzuweihen. Er war nämlich der Meinung, der Knabe wisse nichts davon, weil er selber nie mit ihm darüber gesprochen hatte, sondern ihn stets in dem Glauben erzogen hatte, er sei das Waisenkind einer entfernten Verwandten.

Was aber der Doktor unterlassen hatte, das hatte die geschwätzige Amme getan. Von früher Jugend an war dem Kinde von der Amme der Kopf mit allerlei Märchen und Sagen verdreht worden, und das redselige Weib hatte dabei vor allem nicht jene Legende vergessen, die sie die entsetzliche Zeit seiner Geburt betitelte. – Da wurde denn nun alles in das grellste Licht gesetzt: die Persönlichkeit seines Vater, – der ganz so ausgesehen hätte, als ob die ganze Welt ihm zu Füßen gelegen hätte, – die Schönheit seiner Mutter und die schreckliche schwarze Maske, die sie getragen habe – ihre Augen, die wie Diamanten gefunkelt hätten, und die Diamanten, die sie am Finger gehabt hätte und die mit nichts zu vergleichen gewesen wären als mit ihren Augen – ihr zarter Teint und die Farbe ihres seidenen Mantels – und allerlei derartiges Geschwätz.

Dann sprach sie weitläufig von der Ankunft seines Großvaters und des furchtbaren, mit Pistolen und Schwert bewaffneten Mannes – dann über die Entführung seiner Mutter, wobei die Banknoten im Hause herumflogen wie Fetzen Löschpapiers und es Goldguineen hagelte wie Kieselsteine.

Das alles erzählte die Amme, teils um die Teilnahme des Knaben zu wecken, teils um ihr eignes Gelüst nach Übertreibung zu befriedigen. Der tatsächliche Vorgang – so geheimnisvoll er auch an sich war – wurde zu einem Nichts vor der Darstellung der Amme und nahm sich aus wie die demütigste Prosa gegenüber dem kühnsten Fluge der Poesie.

Das alles war Musik für Richards Ohr. Er malte sich mit wahrer Wonne aus, daß eines Tages sein tapferer Vater unerwartet an der Spitze eines tapfern Regimentes mit klingendem Spiel und fliegenden Standarten einziehen werde, um seinen Sohn auf dem schönsten Pferde, das Menschenaugen je erschaut hätten, wegzuführen. Oder seine Mutter, schön wie der Tag, werde plötzlich in einer Kalesche mit sechs Pferden erscheinen und ihr geliebtes Kind abholen. Oder sein reicher Großvater werde mit den Taschen voll Banknoten ankommen und seinen Enkel mit Reichtümern überhäufen.

Kurz, während der gute Doktor Gray sich einbildete, sein Pflegekind wisse nichts von seiner Herkunft, dachte Richard nur noch daran, wann und in welcher Weise er eines Tages wohl aus dem beschränkten Dunkel seines jetzigen Lebens emporgehoben und in eine Stellung gelangen würde, auf die er seiner Meinung nach durch seine Geburt ein Anrecht hatte.

Viertes Kapitel

Solche Empfindungen beseelten den jungen Mann, als eines Tages der Doktor nach Tisch die große lederne Brieftasche hervorholte, in welcher er seine wichtigen Dokumente aufbewahrte. Er nahm das Schreiben Moncadas heraus und bat Richard, ihm aufmerksam zuzuhören, denn er habe ihm betreffs seiner eigenen Person mehreres mitzuteilen, was von größter Bedeutung für ihn sei.

Richards Augen funkelten, endlich war die Stunde der Erklärung gekommen. Auf seiner breiten, gut geformten Stirn füllten die Adern sich mit Blut – er horchte hoch auf, als Gideon Gray ihm alles erzählte, wobei freilich das phantastische Beiwerk gänzlich fehlte, mit dem die Amme die Vorgänge ausgeschmückt hatte.

Der Bericht war ferner seinem Inhalt nach auf das, was die Geschäftsmänner das Wesentlichste nennen, zusammengedrängt und enthielt somit nichts weiter als die Geschichte eines Kindes der Schande eines von Vater und Mutter verlassenen Kindes, das von den nur widerwillig gegebenen Almosen eines entfernten Verwandten aufgezogen worden war – eines Großvaters, der das Kind als den leibhaftigen Beweis für die Schande seiner Familie ansah und weit lieber die Kosten seiner Beerdigung als die seiner Erziehung getragen hätte.

Alle Tempel und Burgen und lieblichen Luftschlösser, die Richard in kindlicher Einbildungskraft gebaut hatte, fielen jäh in sich zusammen, und der Schmerz, sie einstürzen zu sehen, war um so bitterer, als noch die Scham hinzukam, sich solchen Träumereien hingegeben zu haben.

Während Gideon weitererzählte, stand er wie zu Boden geschmettert, die Augen hafteten auf der Erde, auf der Stirn waren im Kampfe der Leidenschaften die Adern geschwollen.

»Und nun, lieber Richard,« sagte der Arzt, »mußt du dir überlegen, was du tun willst, da dir dein Großvater die Wahl zwischen drei ehrenwerten Berufen freistellt. In jedem kannst du, wenn du die eingeschlagene Bahn rechtschaffen und vernünftig verfolgst, ein unabhängiger, allerdings kein reicher, ein achtbarer, wenn auch kein vornehmer Mann werden. Nun wirst du natürlich eine kurze Bedenkzeit haben wollen.«

Der junge Mann hob den Kopf und heftete einen kühnen Blick auf seinen Pflegevater.

»Nicht eine Minute!« rief er im Tone beleidigten Stolzes. »Sagt meinem Großvater, meine Seele empört sich über die niedrige Stellung, die er mir zumutet. Ich bin entschlossen, die Laufbahn meines Vaters einzuschlagen und in die Armee zu treten, sofern mein Großvater mich nicht zu sich nehmen und in sein Geschäft aufnehmen will.«

»Er soll dich zum Teilhaber machen und als Erben anerkennen, nicht wahr? Darauf ist ja freilich nicht zu rechnen, wenn man bedenkt, in welcher Weise er dich hat erziehen lassen und welche Bedingungen er betreffs deiner Person gestellt hat.«

»Auf jeden Fall, Herr,« antwortete der Knabe, »darf ich ein Verlangen aussprechen. Eine große mir gehörige Geldsumme ist in Euern Händen, sie ist Euch überwiesen worden, um für mich verwendet zu werden, und ich verlange, daß Ihr mir die Vorschüsse gewährt, deren ich bedarf, um eine Offiziersstelle zu erhalten. Den Rest händigt mir gefälligst aus, und ich will Euch dann nicht länger behelligen.«

»Junger Mann,« versetzte der Doktor mit Ernst, »es tut mir recht leid, daß deine Klugheit und deine gute Stimmung gleich Schiffbruch gelitten haben, weil die törichten Erwartungen, die zu hegen du nicht die mindeste Veranlassung hattest, vereitelt worden sind. Ich habe allerdings eine für dich bestimmte Summe in Händen, die sich trotz mehrerer Ausgaben noch immer auf 1000 Pfd., vielleicht auf etwas mehr belaufen mag. Ich habe aber die Verpflichtung, sie nur in der Weise anzuwenden, die der Geber festgesetzt hat, und vor allem hast du selber nicht eher Anspruch darauf, als bis du großjährig geworden bist, und das hat noch sechs Jahre Zeit. – Aber sei gut, Richard, es ist das erste Mal, daß ich dich in so alberner Laune sehe, ich gebe allerdings zu, daß bei deiner Lage so mancherlei vorliegt, was eine noch größere Verstimmung deinerseits entschuldigen möchte. Aber du solltest doch deinen Ärger nicht an mir auslassen, denn ich habe keine Schuld an deinem Unglück. Du solltest vielmehr bedenken, daß ich dein erster und einziger Freund war und lange Zeit hindurch allein die Sorge für dich auf mich genommen habe, wo alle Welt dich aufgegeben hatte.«

»Das danke ich Euch nicht,« versetzte Richard in ungezügeltem Ausbruch wilder Leidenschaft, »Ihr hättet mich weit besser versorgen können, wenn Ihr nur gewollt hättet.«

»Und wie denn, undankbarer Bursch?« rief Gray, der die Geduld verlor.

»Unter die Räder des Wagens hättet Ihr mich werfen sollen, als die Leute wegfuhren, daß der Leib ihres Kindes zermalmt worden wäre!«

Mit diesen Worten stürzte er hinaus und warf die Tür hinter sich zu. Sein Pflegevater blieb zurück in tiefster Verwunderung über die so plötzliche und eingreifende Veränderung, die in dem ganzen Wesen des Knaben vor sich gegangen zu sein schien.