Franks Russisch war eingerostet, und er konnte das meiste von dem, was die Menge Maya zubrüllte, nicht verstehen. Er folgte aber sehr gut ihren Antworten. Sie erklärte das Emigrationsmoratorium, den Engpass in der Produktion von Städtebaurobotern und bei der Wasserversorgung, die Notwendigkeit von Disziplin und das Versprechen eines künftigen besseren Lebens, wenn alles ordentlich abliefe. Er hatte den Eindruck, dass das eine typische Babuschka-Ansprache war; und sie hatte den Effekt, die Leute etwas zu beruhigen, da bei vielen Russen jetzt eine starke reaktionäre Stimmung herrschte. Sie erinnerten sich, was soziale Unruhe wirklich bedeutete, und hatten verständlicherweise Angst davor. Und es gab viel zu versprechen. Alles erschien plausibeclass="underline" eine große Welt, wenig Menschen, eine Menge von Rohstoffen, gute Roboterkonstruktionen, Computerprogramme, Gen-Muster …
Als die Diskussion einmal wirklich laut wurde, sagte er zu ihr auf englisch: »Denk an den Knüppel!«
»Was?«
»Den Knüppel! Droh ihnen! Rübe und Knüppel.«
Sie nickte und nahm wieder das Megaphon. Die ständige Unsicherheit der giftigen Luft, die tödliche Kälte. Sie waren nur durch die Kuppel am Leben und durch die Lieferung von Elektrizität und Wasser. Sie waren auf vielfältige Weise gefährdet, an die sie nicht richtig gedacht hatten und die es daheim überhaupt nicht gab.
Sie war schnell, wie sie es immer gewesen war. Zurück zu Versprechungen. Vor und zurück, Knüppel und Rübe, ein Schlag mit der Peitsche und einige Leckereien. Schließlich waren auch die Russen befriedet.
Nachher im Zug hinauf nach Sheffield schnatterte Maya nervös erleichtert, mit gerötetem Gesicht und leuchtenden Augen. Sie ergriff seinen Arm, warf den Kopf zurück und lachte. Diese nervöse Intelligenz, diese anhaltende physische Präsenz … Er musste selbst erschöpft gewesen sein oder mehr erschüttert durch das, was er während der Zeit in den Kuppeln gesehen hatte. Oder vielleicht war es auch die Begegnung mit Phyllis gewesen. Er hatte jetzt wärmere Gefühle für Maya. Es war, als ob man in eine Sauna käme nach einem kalten Tag im Freien, mit dem gleichen Gefühl von Erleichterung und tiefem Wohlgefühl. Sie sagte schnelclass="underline" »Ich weiß nicht, was ich hätte tun können ohne dich. Du bist in solchen Situationen wirklich so gut, so klar, fest und scharf. Sie schenken dir Glauben, weil du nicht versuchst, ihnen zu schmeicheln oder die Wahrheit abzumildern.«
»Das funktioniert am besten«, sagte er und schaute aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden Kuppeln. »Besonders wenn man ihnen schmeichelt und sie anlügt.«
»O Frank!«
»Das ist wahr. Darin bist du selbst gut.«
Das war eine typische rhetorische Floskel, aber Maya merkte es nicht. Es gab dafür einen Fachausdruck, an den er sich nicht erinnern konnte. Metonymie? Synekdoche? Aber sie lachte bloß, lehnte sich an ihn und drückte seine Schulter. Als ob der Kampf in Burroughs nie stattgefunden hätte, von dem, was davor lag, ganz zu schweigen. Und in Sheffield ließ sie ihre Station passieren und stieg dann mit ihm zusammen aus. Sie ging an seine Schulter gelehnt durch die große Bahnhofshalle und dann zu seiner Wohnung. Dort entkleidete sie sich, duschte und zog einen Pullover von ihm an. Dabei plapperte sie ständig über den Tag und die Lage im allgemeinen. Als ob sie das immer so machten, gingen sie essen: Suppe, Forelle, Salat, eine Flasche Wein — wie alle Tage! Dann lehnten sie sich in ihren Sesseln zurück, um Kaffee und Brandy zu trinken. Politiker nach einen arbeitsreichen Tag. Die Anführer.
Schließlich hatte sie genug und lag lässig in ihrem Sessel, damit zufrieden, ihn bloß anzusehen. Und erstaunlicherweise machte ihn das nicht nervös. Es war, als ob ein Kraftfeld ihn vor alledem schützte. Vielleicht der Ausdruck in ihren Augen. Manchmal schien es, als ob man wirklich sagen könnte, dass jemand einen mochte.
Sie verbrachten die Nacht zusammen. Und danach teilte sie ihre Zeit zwischen ihrer Wohnung im ›Mars-zuerst‹-Büro und seinen Zimmern, ohne je zu diskutieren, was sie tat und was das bedeutete. Und wenn es Zeit fürs Bett war, zog sie sich aus, rollte sich neben ihn und dann auf ihn, warm und ruhig. Die Berührung eines ganzen Körpers, alles auf einmal … Und wenn er etwas unternahm, reagierte sie unverzüglich. Er brauchte nur ihren Arm zu berühren. Als ob man in eine Sauna ginge. Sie war in diesen Tagen so angenehm, so ruhig. Wie eine andere Person. Es war erstaunlich. Ganz und gar nicht Maya. Aber da war sie und flüsterte: Frank, Frank.
Aber sie sprachen nie darüber. Es ging immer um die Lage, die Neuigkeiten des Tages; und das gab ihnen wahrhaft reichlich Gesprächsstoff. Die Unruhe auf Pavonis war in einen zeitweiligen Schwebezustand übergegangen; aber die Schwierigkeiten umfassten den ganzen Planeten und wurden immer schlimmer: Sabotagen, Streiks, Krawalle, Kämpfe, Scharmützel, Morde. Und die Meldungen von der Erde waren durch den schwärzesten Galgenhumor in schieres Entsetzen abgesunken. Mars bot demgegenüber ein Bild der Ordnung, ein kleiner lokaler Wirbel, abgetrennt von dem gigantischen Mahlstrom, der Frank wie eine Todesspirale vorkam für alles, was hineingeriet. Kleine Kriege flackerten überall auf wie Zündhölzer. Indien und Pakistan hatten in Kaschmir Kernwaffen eingesetzt.
Afrika lag im Sterben, und der Norden zankte sich darum, wer zuerst helfen sollte.
Eines Tages erfuhren sie, dass die Mohole-Stadt Hephaestus westlich von Elysium, bemannt von Amerikanern und Russen, verlassen worden war. Der Funkkontakt war abgerissen; und als Leute aus Elysium gekommen waren, um nachzusehen, hatten sie die Stadt leer vorgefunden. Ganz Elysium war in Aufruhr; und Frank und Maya beschlossen zu sehen, ob sie in Person etwas ausrichten könnten. Sie nahmen zusammen den Zug nach Tharsis, hinab in die dicker werdende Luft und über die steinigen Ebenen, die jetzt gefleckt waren von Treibschnee, der nie schmolz. Der Schnee war jetzt gekörnt, schmutzig rosa, ähnlich wie die Nordseite jeder Düne und jedes Felsblocks, wie farbige Schatten. Und dann über die glitzernden schwarzen Flächen von Isidis, wo der Permafrost an warmen Sommertagen schmolz, um wieder zu schwarzen Schollen zu gefrieren. Eine Tundra im Entstehen, vielleicht sogar ein Sumpf. An den Fenstern des Zuges flogen Büschel schwarzen Grases vorbei, vielleicht sogar arktische Blüten. Oder war es vielleicht bloß Abfall?
Burroughs war still und ungemütlich, die breiten begrasten Boulevards leer, ihr Grün so schockierend wie die Halluzination eines Nachbildes, wenn man in die Sonne geblickt hat. Während sie auf den Zug nach Elysium warteten, ging Frank in den Gepäckraum des Bahnhofs und reklamierte den Inhalt seines Zimmers in Burroughs, den er zurückgelassen hatte. Der Wärter kam mit einer einzigen großen Kiste zurück, die die Kücheneinrichtung eines Junggesellen enthielt, eine Lampe, einige Pullover und ein Lesegerät. Er konnte sich an nichts davon erinnern. Er steckte das Lese- und Notizgerät in die Tasche und warf den Rest in einen Müllbehälter. Vertane Jahre. Er konnte sich an keinen Tag davon erinnern. Die Vertragsübereinkunft hatte sich jetzt als reines Theater entpuppt, als ob jemand die Stütze einer Bühnendekoration umgeworfen und den ganzen Hintergrund hätte herunterkommen lassen, womit eine wahre Geschichte auf den Stufen dahinter zum Vorschein gekommen wäre, die zwei Männer zeigte, die sich die Hände schüttelten und zunickten.
Das russische Büro in Burroughs wünschte, dass Maya bliebe und sich mit einigen russischen Angelegenheiten dort befasste. Also nahm Frank allein einen Zug nach Elysium und schloss sich dann einer Roverkarawane nach Hephaestus an. Die Leute in seinem Wagen waren durch seine Anwesenheit gehemmt. Er ignorierte sie ärgerlich und sah sein Notizbuch durch. Größtenteils eine Standardauswahl, eine große Reihe von Büchern, die nur durch einige politisch-philosophische Titel ergänzt wurde. Hunderttausend Bände. Heute fassen solche Geräte das Hundertfache, obwohl das eine sinnlose Verbesserung war; denn es gab nicht mehr Zeit, auch nur ein einziges Buch zu lesen. Er hatte sich in jenen Tagen offenbar für Nietzsche interessiert. Ungefähr die Hälfte der markierten Stellen stammten von ihm. Als Frank sie durchsah, konnte er nicht nachvollziehen, weshalb er sie markiert hatte. Es war alles windiges Gefasel. Und dann las er etwas, das ihn erschaudern machte: »Das Individuum ist in seiner Zukunft und seiner Vergangenheit ein Stück Schicksal, ein Gesetz mehr und eine Notwendigkeit mehr für alles, das ist und alles, das sein wird. Wenn man zu ihm sagt ›Verändere dich!‹, heißt das zu verlangen, dass alles sich ändern soll, sogar in der Vergangenheit …«