»Aber wie?«
»Reaktorschmelze.«
Angela stieß einen Pfiff aus.
»Aber die Strahlung!« schrie Nadia.
»Sicher. Habt ihr kürzlich mal auf euren Zähler geschaut? Ich nehme an, dass drei oder vier von ihnen hin sind.«
»Oho!« rief Angela.
»Und das ist nur vorläufig.« Anns Stimme hatte jenen distanzierten, toten Klang, den sie annahm, wenn sie wütend war. Sie beantwortete ihre Fragen wegen der Flut sehr kurz. Eine so große Flut bewirkte extreme Druckschwankungen. Und alles wurde stromabwärts gefegt in einem zermahlenden Tosen, einem reißenden, mit Gas gemischten und Felsblöcke mitführenden Brei. »Werdet ihr nach Peridier kommen?« fragte sie, nachdem sie die Fragen beantwortet hatte.
»Wir wenden uns gerade nach Osten«, erwiderte Yeli. »Ich wollte erst eine visuelle Peilung von Fv-Krater bekommen.«
»Eine gute Idee.«
Sie flogen weiter. Das wilde Toben der Flut versank unter dem Horizont, und sie flogen wieder über dem vertrauten alten Sand und Gestein. Bald erschien Peridier vor ihnen über dem Horizont, eine niedrige, stark erodierte Kraterwand. Die Kuppel war verschwunden. Zerrissene Gewebefetzen flatterten noch da und dort am Kraterrand, als ob ein Saatbeutel geplatzt wäre. Die nach Süden führende Piste spiegelte die Sonne wie ein Silberfaden. Sie flogen über den Bogen der Kraterwand, und Nadia betrachtete mit dem Feldstecher die dunklen Gebäude. Dabei fluchte sie in einem leisen slawischen Singsang. Wie? Wer? Warum? Es war nicht zu verstehen. Sie flogen weiter zur Landebahn an der anderen Kraterböschung. Keiner der Hangars war in Funktion. Sie mussten Schutzkleidung anlegen und mit kleinen Wagen über den Rand in die Stadt fahren.
Die überlebenden Bewohner von Peridier waren in der Versorgungszentrale zusammengedrängt. Nadia und Yeli gingen durch deren Schleuse, umarmten Ann und Simon und wurden dann den anderen vorgestellt. Das waren ungefähr vierzig Personen, die von Notvorräten lebten und sich bemühten, die Luftversorgung in den hermetisch verschlossenen Gebäuden aufrecht zu halten. Zum Glück war die Zentrale verstärkt gewesen und hatte dem inneren Druck ihrer eigenen Luftversorgung widerstanden. Angela fragte die Überlebenden, was geschehen sei. Sie erzählten die Geschichte wie eine Art von griechischem Chor, wobei sie einander häufig unterbrachen. Eine einzige Explosion hatte die Kuppel wie einen Ballon zerplatzen lassen und eine sofortige Dekompression bewirkt, die auch viele Gebäude in der Stadt hatte hochgehen lassen. Aber die im Innern der Zentrale hatten überlebt. Die draußen auf den Straßen oder in den anderen Gebäuden nicht.
»Wo ist Peter?« fragte Yeli aufgeregt und ängstlich. Simon sagte rasch: »Er befindet sich auf Clarke. Er hat uns angerufen, gleich nachdem alles anfing. Er hat versucht, in einem Aufzug nach unten einen Platz zu bekommen. Aber dort ist alles von Polizeitruppen übernommen worden. Ich nehme an, dass sie sich bereits im Orbit befanden. Er wird herunterkommen, sobald er kann. Da oben ist es jetzt sicherer, daher habe ich es nicht besonders eilig, ihn zu sehen.«
Nadia dachte an Arkady. Aber da war nichts zu machen, und sie ging rasch daran, Peridier wieder aufzubauen. Zunächst fragte sie die Überlebenden nach ihren Plänen; und als sie die Achseln zuckten, schlug sie vor, sie sollten zunächst eine kleinere Kuppel auf dem Grund des Kraters errichten, unter Benutzung von Zeltmaterial, das draußen am Flughafen für Bauzwecke gelagert war. Da draußen waren auch eine Menge älterer Roboter eingemottet, so dass der Wiederaufbau ohne allzu viel Gerätebeschaffung möglich war. Die Bewohner waren begeistert, sie hatten nichts von dem Inhalt der Lagerhäuser am Flughafen gewusst. Nadia schüttelte darüber den Kopf. Sie sagte später zu Yeli: »Das steht alles in den Dateien. Sie hätten bloß zu fragen brauchen. Sie haben einfach nicht nachgedacht. Sie schauen bloß das Fernsehen an, sehen zu und warten.«
»Nun, Nadia, es ist ein Schock, plötzlich ohne Kuppel zu sein. Sie mussten sich erst vergewissern, dass das Gebäude sicher war.«
»Scheint so.«
Aber unter ihnen waren sehr wenige Ingenieure oder Baufachleute. Sie waren zumeist Areologen, Spezialisten für Böschungen oder Bergwerksleute. Der Bau von Basen war etwas für Roboter, so schienen sie jedenfalls zu denken. Es war schwer zu sagen, wie lange sie gebraucht hätten, um selbst an den Wiederaufbau zu gehen; aber mit Nadia, die zeigte, was getan werden konnte, die sie mit einem kurzen Wutausbruch über ihre Untätigkeit auf Trab brachte, waren sie bald am Werk. Nadia arbeitete jeden Tag achtzehn bis zwanzig Stunden lang. Sie ließ eine Grundmauer errichten und setzte Kräne ein zum Bau der Kuppel. Danach war es nur noch eine Sache der Aufsicht. Nadia fragte ihre Gefährten aus Laßwitz unentwegt, ob sie wieder mit ihr in die Flugzeuge steigen würden. Sie sagten zu, und so starteten sie etwa eine Woche nach ihrer Ankunft wieder, wobei Ann und Simon sie in Angela und Sams Flugzeug begleiteten.
Während sie nach Süden flogen, den Abhang von Isidis hinab auf Burroughs zu, knisterte plötzlich eine codierte Mitteilung über ihre Lautsprecher. Nadia wühlte in ihrem Gepäck und fand einiges Zeug, das Arkady ihr gegeben harte. Sie fand, was sie suchte, und stöpselte es in die KI des Flugzeugs ein. Einige Sekunden nachdem die Mitteilung Arkadys Entschlüsselungsprogramm durchlaufen hatte, sprach das Gerät monoton:
»UNOMA in Besitz von Burroughs. Hält jeden fest, der dorthin kommt.«
In beiden Flugzeugen herrschte Schweigen, während sie durch den leeren rosa Himmel südwärts strebten. Unter ihnen senkte sich die Ebene von Isidis nach links.
»Lasst uns jedenfalls hingehen«, schlug Ann vor. »Wir können ihnen persönlich sagen, dass sie die Angriffe einstellen sollen.«
»Nein«, entgegnete Nadia. »Ich will imstande sein zu arbeiten. Und wenn sie uns einsperren … Außerdem, warum denkst du, dass sie sich anhören werden, was wir über die Angriffe sagen?«
Keine Antwort von Ann.
»Können wir es bis Elysium schaffen?« fragte Yeli.
»Ja«, erwiderte Nadia.
Also wandten sie sich nach Osten und ignorierten Beschwerden seitens der Flugüberwachung von Burroughs. »Sie werden nicht hinter uns herkommen«, sagte Yeli zuversichtlich. »Schaut, das Satellitenradar zeigt, dass viele Flugzeuge hier herum in der Luft sind, zu viele, um alle zu verfolgen. Und es wäre auf jeden Fall eine Zeitverschwendung, weil ich den Verdacht habe, dass einige davon Köder sind. Da hat jemand eine Menge Drohnen hochgeschickt, was die Sache hübsch verwirrend macht, was uns betrifft.«
»Dabei hat sich jemand wirklich viel Mühe gegeben«, flüsterte Nadia, während sie das Radarbild betrachtete. Fünf oder sechs Objekte glühten im Südquadranten. »Bist du das gewesen, Arkady? Hast du so viel vor mir verheimlicht?«
Sie dachte an seinen Radiosender, auf den sie gerade in ihrem Gepäck gestoßen war. »Oder vielleicht war es gar nicht versteckt. Vielleicht habe ich es bloß nicht sehen wollen.«
Sie flogen nach Elysium und landeten dicht bei South Fossa, dem größten überdachten Canyon von allen. Sie stellten fest, dass das Dach noch da war, aber, wie sich herausstellte, nur deshalb, weil der Druck aus der Stadt abgelassen worden war, ehe sie leck wurde. Daher waren die Einwohner in vielen intakten Gebäuden gefangen und hatten versucht, die Farm in Gang zu halten. Es hatte in der Versorgungszentrale eine Explosion gegeben und mehrere weitere in der Stadt selbst. Also gab es hier viel Arbeit; aber man hatte eine gute Grundlage für einen raschen Wiederaufbau; und die Bevölkerung war unternehmenslustiger als in Peridier. Also machte Nadia sich wie zuvor ans Werk und beschloss, jeden wachen Augenblick mit Arbeit auszufüllen. Sie hielt es nicht aus, müßig zu sein. Die alten Jazzmelodien gingen ihr durch den Kopf — nichts Passendes; es gab keinen hierfür geeigneten Jazz oder Blues. Alles war völlig inhomogen. ›On the Sunny Side of the Street‹, ›Pennies from Heaven‹, ›A Kiss to Build a Dream On‹ …