Sie starteten Dämmungs- und Eingrabungsprogramme für drei explodierte Reaktoren. Dabei blieben sie in Sicherheit hinter dem Horizont und arbeiteten mit Teleoperating. Während er die Arbeiten überwachte, wechselte Yeli manchmal die Kanäle und warf einen Blick auf die Nachrichten. Ein Bild kam aus dem Orbit. Eine Aufnahme der Tharsis-Hemisphäre, welche die ganze Sichel außer den Westrand bei Tageslicht zeigte. Aus dieser Höhe konnten sie kein Anzeichen der Ausflüsse erkennen. Aber die Stimme aus dem Off erklärte, dass diese in allen alten Flussbetten stattgefunden hätten, die von Marineris nach Norden zu Chryse verliefen. Und das Bild sprang zu einem teleskopischen Bild, das in jener Region rötlich weiße Bänder zeigte. Also jetzt wirkliche Kanäle.
Nadia ging nach dem Fernsehbericht gleich wieder an ihre Arbeit. So viel zerstört, so viele Menschen getötet, Menschen, die tausend Jahre hätten leben können, und natürlich kein Wort von Arkady. Es waren jetzt zwanzig Tage. Manche sagten, er konnte gezwungen worden sein, ganz unterzutauchen, um nicht durch einen Schlag aus dem Orbit getötet zu werden. Aber Nadia glaubte das nicht mehr länger, außer in Momenten extremer Sehnsucht und Schmerzes, den beiden Emotionen, die durch die besessene Arbeitsweise in einer brandneuen Mischung aufwallten zu einem neuen Gefühl, das sie hasste und fürchtete. Sehnsucht bewirkte Schmerz, und Schmerz bewirkte Sehnsucht — ein heißes wildes Verlangen, dass die Dinge nicht so sein sollten, wie sie waren. Wie quälend ein solches Verlangen war! Aber wenn sie hart genug arbeitete, gab es keine Zeit dafür. Keine Zeit zu denken oder zu fühlen.
Sie flogen über die Brücke, die an der Ostgrenze von Hellas Harmakhis Vallis überspannt hatte. Sie war hinuntergebrochen. Instandsetzungsroboter waren bei allen großen Brücken in Nischen versteckt; und sie konnten zur völligen Rekonstruktion der Spannweite programmiert werden, obwohl sie dabei langsam sein würden. Die Reisenden brachten sie in Gang; und nachdem sie die letzten Programme installiert hatten, setzten sie sich in den Kabinen der Flugzeuge zu in Mikrowellen erhitzten Spaghetti hin, und Yeli stellte wieder den Kanal des Fernsehens von der Erde ein. Es gab nur Statik und ein wackelndes, miserables Bild. Er versuchte es mit Kanalwechsel, aber es war überall dasselbe. Starke, brummende Störungen.
Ann sagte: »Haben sie etwa die Erde in die Luft gejagt?«
»Nein, nein«, meinte Yeli. »Da stört jemand. Die Sonne steht in diesen Tagen zwischen uns und der Erde. Man braucht nur mit ein paar Relais-Satelliten dazwischenzufunken, um den Kontakt ganz abzuschneiden.«
Sie starrten finster auf den sprühenden Schirm. In den letzten Tagen waren die asynchronen Nachrichtensatelliten links und rechts abgestürzt — abgeschossen oder durch Sabotage, das war unmöglich zu sagen. Jetzt, ohne die Nachrichten von der Erde, würden sie wirklich im Finstern sitzen. Radiosignale von Oberfläche zu Oberfläche waren sehr begrenzt in Anbetracht des nahen Horizonts und des Fehlens einer Ionosphäre. Kaum größere Reichweite als mit Handsprechgeräten. Yeli versuchte es mit mannigfaltigen stochastischen Resonanzmustern, um zu sehen, ob er die Blockade durchdringen könnte. Die Signale waren hoffnungslos verzerrt und überlagert. Er gab knurrend auf und tastete ein Suchprogramm ein. Das Radio oszillierte durch die Frequenzen hinauf und herunter, erwischte Statik und hielt bei der gelegentlichen schwachen Hervorhebung an. Codiertes Knacken, unwiederbringliche Musikfetzen. Geisterstimmen plapperten in unverständlichen Sprachen, als ob Yeli dort Erfolg gehabt hätte, wo das SETI-Programm der Suche nach extraterrestrischer Intelligenz versagt hatte. Als ob jetzt, da es sinnlos war, Botschaften von den Sternen eingetroffen wären. Wahrscheinlich nur irgendwelches Zeug von den Bergwerksleuten auf Asteroiden. Auf jeden Fall unverständlich und nutzlos. Sie waren auf der Oberfläche des Mars allein, fünf Personen in zwei kleinen Flugzeugen.
Das war ein neues und sehr eigenartiges Gefühl, das in den folgenden Tagen noch stärker wurde, als sich nichts änderte. Es wurde ihnen klar, dass sie weitermachen mussten, während alle ihre Fernseh- und Funkgeräte durch weißes Rauschen überdeckt waren. Das war für sie eine einzigartige Erfahrung, nicht nur auf dem Mars, sondern in ihrem gesamten Leben. Und sie merkten bald, dass der Verlust elektronischer Information wie der Verlust eines ihrer Sinne war. Nadia blickte dauernd auf ihr Armbandgerät, auf dem vor dieser Panne Arkady jede Sekunde hätte erscheinen können. Auf dem jeder Beliebige der Ersten Hundert hätte auftauchen und sich für sicher erklären können. Und dann blickte sie von dem kleinen leeren Quadrat auf das Land um sie herum, das plötzlich so viel größer, wilder und leerer war als je zuvor. Es war erschreckend. Nichts als zerklüftete rostfarbene Hügel, so weit das Auge reichte, selbst wenn man in der Dämmerung in den Flugzeugen saß und nach einem der kleinen Landeplätze Ausschau hielt, die auf der Karte verzeichnet waren, und die, wenn man sie ausgemacht hatte, wie kleine Bleistifte aussahen. Eine so große Welt! Und sie waren in ihr allein. Selbst auf Navigation konnte man sich nicht mehr verlassen. Sie blieb nicht den Computern überlassen. Man musste Straßentransponder benutzen und Koppelnavigation und visuelle Bezugspunkte, indem sie ängstlich in der Morgendämmerung die nächste Landebahn in der Wildnis suchten. Einmal brauchten sie weit bis in den Vormittag, um einen Platz nahe Dao Vallis zu finden. Danach entschloss Yeli sich, Pisten zu folgen. Er flog in der Nacht tief und beobachtete das kleine silbrige Band, welches sich unter ihnen im Sternenlicht dahinschlängelte, während er die Transpondersignale mit den Karten verglich.
Und so schafften sie es, in das weite Tiefland des Hellas-Beckens hinunterzufliegen, indem sie der Piste nach Low Point Lakefront folgten. Dann kam im roten Licht des Horizonts und den langen Schatten des Sonnenaufgangs ein See aus zerbrochenem Eis in Sicht. Er füllte den ganzen westlichen Teil von Hellas. Ein See!
Die Piste, der sie gefolgt waren, führte direkt ins Eis. Die gefrorene Küstenlinie war ein gezacktes Wirrwarr von Eisplatten, die schwarz oder weiß oder sogar blau oder jadegrün waren. Alles zusammen aufgehäuft, als ob eine Gezeitenwoge die Schmetterlingssammlung des Großen Mannes zerbrochen und über einem unfruchtbaren Strand ausgeschüttet hätte. Dahinter zog sich der gefrorene See bis über den Horizont dahin.
Nach einigen Sekunden des Schweigens sagte Ann: »Sie müssen das Wasserlager von Hellesponrus zerbrochen haben. Das war wirklich groß, und es würde bis Low Point hin auslaufen.«
»Also muss das Mohole Hellas überflutet sein«, sagte Yeli.
»Richtig! Und das Wasser auf seinem Boden wird sich erwärmen. Wahrscheinlich so weit, dass die Oberfläche des Sees nicht gefriert. Schwer zu sagen. Die Luft ist zwar kalt, aber durch die Konvektion könnte es eine offene Stelle geben. Falls nicht, dann wird es bestimmt dicht unter der Oberfläche flüssig sein. Es muss wirklich starke Konvektionsströme geben. Aber die Oberfläche …«
»Das werden wir gleich sehen«, sagte Yeli. »Wir werden darüberfliegen.«
Nadia wandte ein: »Wir sollten landen.«
»Nun, das werden wir, sobald wir können. Außerdem scheint sich die Lage etwas zu beruhigen.«
»Das kommt nur daher, dass wir von den Nachrichten abgeschnitten sind.«
»Hmm.«
Es stellte sich heraus, dass sie die ganze Strecke quer über den See fliegen mussten, um auf der anderen Seite zu landen. Es war ein unheimlicher Morgen, tief über eine zerrissene Fläche zu fliegen, die an das Eismeer der Erde erinnerte, nur dass hier die Eisströme die Landschaft wie die offene Tür einer Tiefkühltruhe bereiften und Farben durch das ganze Spektrum aufwiesen, natürlich mit Schwerpunkt auf Rot. Aber dadurch kamen das gelegentliche Blau und Grün und Gelb nur noch besser heraus als Partikel eines immensen chaotischen Mosaiks.
Und dort im Zentrum, wo sich selbst in der Höhe, in der sie flogen, der See aus Eis nach jeder Richtung bis zum Horizont erstreckte, stand eine gewaltige Dampfwolke, die Tausende von Metern in die Luft aufstieg. Als sie diese vorsichtig umkreisten, sahen sie, dass das Eis darunter in Berge und Schollen zerbrochen war, die dicht gepackt in sprudelndem dampfendem schwarzem Wasser schwebten. Die schmutzigen Berge rotierten, stießen zusammen, überschlugen sich, und dicke Fluten schwarzen Wassers spritzten hoch. Wenn diese Wände hinunterfielen, breiteten sich in konzentrischen Kreisen Wellen aus, die alle Berge, die vorbeizogen, auf und ab hüpfen ließen.