Dann kam ein Anruf vom Krater Escalante, der genau auf dem Äquator liegt. Sie hatten nach der Meldung über Clarke sofort evakuiert, waren aber nach Süden gegangen, so dass sich das Eintreffen des Kabels als eine sehr knappe Sache erwiesen hatte. Sie meldeten, dass das Kabel jetzt explodierte, wenn es aufprallte, und breite Streifen geschmolzener Auswurfstoffe in den Himmel schickte, wie ein lavaartiges Feuerwerk, das sich bogenförmig in ihre Morgendämmerung emporzog und matt und schwarz war, wenn es wieder auf die Oberfläche zurückfiele.
Während all dem verließ Sax nie seinen Schirm. Und jetzt murmelte er mit zusammengepressten Lippen vor sich hin, während er Tasten bediente und las. In seiner zweiten Runde würde sich, wie er sagte, die Fallgeschwindigkeit auf einundzwanzigtausend Kilometer in der Stunde erhöhen, so dass es bei sechs Kilometern in der Sekunde für jeden, der in Sichtweite davon wäre, gefährlich sei, sogar tödlich, wenn man sich nicht auf einer Anhöhe und viele Kilometer entfernt befände. Es würde aussehen wie ein Meteoritentreffer und in weniger als einer Sekunde den Horizont überqueren. Sonische Schläge würden folgen.
»Gehen wir hinaus und sehen wir es uns an!« schlug Steve vor und blickte dabei Ann und Simon schuldbewusst an. Viele von ihnen zogen sich an und gingen hinaus. Die Reisenden begnügten sich mit einem Videobild, das von einer externen Kamera hereingesendet wurde und mit Videoclips von den Satelliten abwechselte. Eindrucksvoll waren kurze Clips von der nächtlichen Seite der Oberfläche. Sie zeigten eine flammende gekrümmte Linie, die nach unten schnitt wie die Klinge einer weißen Sense, die den Planeten entzweizuschneiden suchte.
Selbst so war es schwer, sich zu konzentrieren und die Aufmerksamkeit auf das zu richten, was sie sahen, und es zu verstehen, geschweige denn etwas dabei zu empfinden. Sie waren schon erschöpft gewesen, als sie gelandet waren; und jetzt waren sie es noch mehr. Dennoch war es unmöglich zu schlafen. Immer mehr Videoclips zogen vorbei. Manche aus Robotkameras, die in unbemannten Sonden auf der Tagseite flogen und einen schwarz werdenden, dampfenden Streifen der Verwüstung zeigten. Der Regolith war in zwei langen parallelen Deichen von Auswurfmaterial zur Seite geflogen und bildete das Ufer für einen Kanal voller Schwärze, die bestreut war mit einer Mischung aus Brekzienmaterial, die um so exotischer wurde, je heftiger der Aufprall war, bis schließlich eine Sondenkamera das Bild eines von Horizont zu Horizont reichenden Grabens schickte, der laut Sax aus schwarzen Diamanten bestand.
In der letzten halben Stunde des Absturzes war der Aufprall so stark, dass nach Norden und Süden alles weithin eingeebnet wurde. Leute sagten, dass niemand, der nahe genug gewesen war, das Kabel wirklich zu sehen, den Aufprall überlebt hätte. Und die meisten Kamerasonden waren auch zerschmettert. Für die letzten Tausende von Kilometern des Aufpralls gab es keine Zeugen.
Ein später Clip kam von der Westseite von Tharsis, vom zweiten Durchgang über den großen Abhang. Er war kurz, aber stark. Ein weißes Aufblitzen am Himmel und eine Explosion, die wie der Funke an einer Zündschnur über die Westseite des Vulkans lief. Ein anderes Bild, von einem Roboter in West Sheffield, zeigte, wie das Kabel genau im Süden vorbeiblitzte. Dann der Schlag eines Erdbebens oder eines sonischen Stoßes, und der ganze Rand des Distrikts von Sheffield fiel in einem Stück herunter und sank langsam auf den Boden der Caldera fünf Kilometer tiefer.
Danach gab es jede Menge von Videoclips, die um das zerbrochene System herumsprangen. Aber es waren nur Wiederholungen oder Verspätungen oder Filme, die das Nachher zeigten. Und danach fingen die Satelliten wieder an, Bilder von oben zu schießen.
Es waren fünf Stunden, seit der Fall begonnen hatte. Die sechs Reisenden lagen in ihren Sesseln, sahen das TV an oder nicht, zu ausgelaugt, um etwas zu fühlen, zu müde, um zu denken.
»Na schön«, sagte Sax. »Jetzt haben wir einen Äquator genau so, wie ich mir den der Erde vorstellte, als ich vier Jahre alt war. Eine große schwarze Linie, die rund um den Planeten läuft.«
Ann warf Sax einen so bitteren Blick zu, dass Nadia fürchtete, sie könnte aufstehen und ihm eine herunterhauen. Aber keiner von ihnen bewegte sich. Die Bilder im Fernseher flimmerten, und die Lautsprecher zischten und krächzten.
In der zweiten Nacht ihres Fluges zu Shalbatana Vallis sahen sie die neue Äquatorlinie persönlich, zumindest den südlichen Teil. In der Dunkelheit war es ein breiter schwarzer Streifen, der sie nach Westen führte. Während sie darüberflogen, machte Nadia ein finsteres Gesicht. Es war nicht ihr Projekt gewesen, aber es war ein Werk, das zerstört war. Eine zum Einsturz gebrachte Brücke.
Und diese schwarze Linie war auch ein Grab. Es waren nicht viele Menschen auf der Oberfläche getötet worden, außer auf der Ostseite von Pavonis, aber die meisten, wenn nicht alle auf dem Aufzug musste es erwischt haben, und das bedeutete an sich schon einige tausend Personen. Die meisten von denen waren wohl unversehrt gewesen, bis ihr Teil der Kabels in die Atmosphäre schlug und verbrannte.
Während sie über die Verwüstung flogen, empfing Sax ein neues Video vom Fall. Jemand hatte schon einen chronologischen Zusammenschnitt aller Bilder gemacht, die live ins Netz gesendet waren oder in den Stunden unmittelbar danach. Bei dieser Montage, einem sehr eindrucksvollen Stück Arbeit, zeigten die letzten Clips den letzten Teil des Kabels, wie er in die Landschaft explodierte. Die Stelle des Aufschlags war nie mehr als ein sich bewegender weißer Fleck, wie ein Fehler im Band. Kein Video war imstande, eine solche Helligkeit aufzuzeichnen. Aber als die Montage fortfuhr, waren die Bilder verlangsamt und in jeder möglichen Weise bearbeitet worden. Und eines dieser manipulierten Bilder bildete den Schluss, eine Ultrazeitlupe, auf der man die Details sehen konnte, die man live nie hätte ausmachen können. Und so konnten sie sehen, dass, als die Linie den Himmel durchkreuzt hatte, der brennende Graphit zuerst abgerissen wurde und eine glühende Doppelspirale aus Diamant hinterließ, die majestätisch aus einem Himmel im Sonnenuntergang strömte.
Natürlich war das alles ein Grabmal. Die Leute darauf waren um die Zeit schon tot und verbrannt. Aber es war schwer, an sie zu denken, wenn das Bild so unheimlich fremd und schön war — die Vision einer phantastischen DNA, der DNA einer Makrowelt aus reinem Licht, die in unser Universum hereinpflügte, um einen unfruchtbaren Planeten zu befruchten …
Nadia hörte auf, das Fernsehen zu betrachten und ließ sich in den Sitz des Copiloten sinken, um bei der Beobachtung des anderen Flugzeugs zu helfen. Die ganze lange Nacht starrte sie aus dem Fenster, unfähig zu schlafen und unfähig, das Bild dieses herabsinkenden Diamanten aus dem Auge ihres Geistes zu bannen. Es war die bisher längste Nacht ihrer Reise. Es erschien ihr wie eine Ewigkeit, bis die Dämmerung kam.
Aber die Zeit verging, wieder eine Nacht ihres Lebens, und schließlich kam die Morgendämmerung. Bald nach Sonnenaufgang landeten sie bei einer Pipeline auf einer Rollbahn über Shalbetana und verweilten bei einer Gruppe von Flüchtlingen, die an der Pipeline gearbeitet hatte und jetzt hier festsaß. Nadia fand die Haltung der Leute nur zum Teil erfrischend und versuchte, sie zu überreden, dass sie nach draußen gingen und Pipelines reparierten. Aber sie hatte nicht den Eindruck, dass sie überzeugt waren.
An diesem Abend starteten sie aufs neue, wieder beladen mit Vorräten, die sie von ihren Gastgebern erhalten hatten. In der nächsten Morgendämmerung landeten sie auf dem verlassenen Flugplatz vom Krater Carr. Noch vor acht waren Nadia, Sax, Ann, Simon, Sasha und Yeli in Schutzkleidung draußen und unterwegs zum Kraterrand.