Die Kuppel war fort. Unten hatte es gebrannt. Alle Gebäude waren intakt, aber angesengt, und fast alle Fenster waren zerbrochen oder geschmolzen. Plastikwände waren verformt, Beton geschwärzt. Überall gab es Rußflecke, und Haufen von Ruß waren auf dem Boden, kleine Haufen aus schwarzem Kohlenstoff. Manchmal sahen sie aus wie Hiroshima-Schatten. Jawohl, es waren Körper. Die Umrisse von Menschen, die versucht hatten, sich durch die Nebenstraßen zu kämpfen. »Die Luft der Stadt enthielt zu viel Sauerstoff«, vermutete Sax. In einer solchen Atmosphäre waren menschliche Haut und Fleisch höchst brennbar und leicht entzündlich. So war es jenen frühen Apollo-Astronauten ergangen, die in einer Testkapsel gefangen waren, die mit reinem Sauerstoff gefüllt gewesen war. Als das Feuer ausbrach, hatten sie wie Paraffin gebrannt.
So auch hier. Alle auf den Straßen hatten Feuer gefangen und waren wie Fackeln umhergerannt. Das konnte man an der Anordnung der Rußhaufen erkennen.
Die sechs alten Freunde gingen zusammen in den Schatten der östlichen Kraterwand. Unter einem runden dunkelroten Himmel hielten sie an der ersten Gruppe geschwärzter Leichen an und gingen dann rasch weiter. Sie öffneten Türen in Gebäuden, wenn es möglich war, klopften an alle verschlossenen Türen und horchten an den Wänden mit einem Stethoskop, das Sax mitgebracht hatte. Kein Geräusch außer ihrem eigenen Herzschlag.
Nadia stolperte umher. Ihr Atem ging rau und stoßweise. Sie zwang sich, die Leichen anzusehen, an denen sie vorbeikam, und versuchte, an den schwarzen Kohlenhaufen Größen abzuschätzen. Wie in Hiroshima oder Pompeji. Die Menschen waren jetzt größer. Aber sie verbrannten bis auf die Knochen, und sogar die Knochen waren nur noch dünne schwarze Stangen.
Als sie zu einem Haufen passender Größe kam, blieb sie stehen und starrte ihn an. Nach einer Weile ging sie näher heran, fand den rechten Arm und kratzte mit ihrem vierfingrigen Handschuh an der Rückseite der verkohlten Knochen des Handgelenks. Sie schaute nach dem Datenschild. Sie fand es und säuberte es. Ließ ihren Laser darübergleiten. Emily Hargrove.
Sie ging weiter und machte dasselbe mit einem anderen ähnlichen Haufen. Thabo Moeti. Das war besser, als die Zähne mit entsprechenden Aufzeichnungen zu vergleichen. Aber das hätte sie nicht gemacht.
Sie war benommen und starr, als sie zu einem klumpigen Haufen nahe der Stadtbüros kam. Der lag allein da und hatte die rechte Hand vorgestreckt, so dass sie nur zu prüfen brauchte. Sie säuberte das Schild und sah nach. Arkady Nikelyovich Bogdanov.
Sie flogen weitere elf Tage lang nach Westen. Bei Tage versteckten sie sich unter Tamdecken oder fanden Zuflucht bei Leuten, die sie unterwegs antrafen. Während der Nächte folgten sie Transpondern oder den Angaben der letzten Gruppe, bei der sie Station gemacht hatten. Obwohl diese Gruppen oft etwas über ihre gegenseitige Existenz und deren Ort wussten, gehörten sie bestimmt keiner geschlossenen Widerstandsbewegung an oder waren sonst wie koordiniert. Manche hofften, es bis zur südlichen Polkappe schaffen zu können wie die Gefangenen von Korolyov, andere hatten nie von diesem Refugium gehört. Manche waren Bogdanovisten, andere Revolutionäre, die verschiedenen Führern folgten. Manche waren religiöse Gemeinden oder utopische Experimente oder nationalistische Gruppen, die mit ihren Regierungen daheim Verbindung zu halten bemüht waren. Und manche waren nur zusammengewürfelte Überlebende ohne ein Programm, verwaist durch den Terror. Die sechs Reisenden hielten sogar bei Korolyov selbst an, versuchten aber nicht hineinzugehen, als sie die nackten gefrorenen Leichen der Wachen vor den Schleusen sahen, manche in stehender Position fixiert wie Statuen.
Nach Korolyov begegneten sie niemandem. Die Radio- und Fernsehsender waren tot, als die letzten Satelliten abgeschossen worden waren, die Pisten waren leer, und die Erde befand sich auf der anderen Seite der Sonne. Die Landschaft erschien so unfruchtbar wie vor ihrer Ankunft — mit Ausnahme sich verbreitender Flecke von Reif. Sie flogen dahin, als wären sie die einzigen Menschen auf der Welt, die einzigen Überlebenden.
In Nadias Ohren summte weißer Lärm. Das hatte ohne Zweifel etwas mit den Ventilatoren des Flugzeugs zu tun. Sie sah die Ventilatoren nach, aber die waren in Ordnung. Die anderen gaben ihr einiges zu tun und ließen sie vor dem Start und nach der Landung allein spazieren gehen. Sie waren selbst bestürzt durch das, was sie bei Carr und Korolyov gefunden hatten, und nicht imstande, sie aufzumuntern, was sie als Erleichterung empfand. Ann und Simon waren immer noch in Sorge um Peter, und Yeli und Sax machten sich Gedanken wegen ihrer Nahrungsbestände, die rapide abnahmen. Die Vorratsfächer der Flugzeuge waren fast leer.
Aber Arkady war tot; und so spielte das alles keine Rolle. Die Revolte erschien Nadia unsinniger denn je, ein unkonzentrierter Wutausbruch, ein Schnitt ins eigene Fleisch, als ob man sich die Nase abhacken würde. Die ganze Welt war zuschanden! Sie bat die anderen, auf einem der allgemeinen Kanäle eine Nachricht zu senden, dass Arkady tot wäre. »Das wird dazu beitragen, dass eher Schluss sein wird«, sagte Sasha.
Sax schüttelte den Kopf und sagte: »Aufstände haben keine Anführer. Außerdem wird es keiner hören.«
Aber einige Tage später war klar, dass einige Leute es doch gehört hatten. Sie empfingen eine Impulsmeldung von Alex Zhalin als Antwort. »Schau, Sax, dies ist nicht die amerikanische Revolution, noch auch die russische oder englische. Dies sind alle Revolutionen zugleich, in einem Land, dessen Areal gleich dem der Erde ist. Und nur ein paar tausend Leute versuchen, ihr Einhalt zu gebieten. Und die meisten von denen befinden sich noch im Weltraum, wo sie eine gute Sicht haben, aber sehr verwundbar sind. Wenn es ihnen also gelänge, eine Macht in Syrtis zu bezwingen, gibt es eine weitere in Hellespontus. Stell dir vor, mit Kräften im Weltraum eine Revolution in Kambodscha stoppen zu wollen, oder auch in Alaska, Japan, Spanien, Madagaskar. Wie willst du das machen? Das kannst du nicht. Ich wünsche nur, dass Arkady Nikelyovich es noch erlebt hätte. Er …«
Die Sendung brach abrupt ab. Vielleicht ein schlechtes Zeichen, vielleicht auch nicht. Aber selbst Alex war es nicht gelungen, eine Note der Entmutigung in seiner Stimme zu verhehlen, als er über Arkady sprach. Das war unmöglich. Arkady war viel mehr gewesen als ein politischer Führer. Er war jedermanns Bruder gewesen, eine Naturkraft, die Stimme des eigenen Gewissens. Das angeborene Empfinden für das, was gut und recht war. Der beste Freund.
Nadia kämpfte sich durch ihren Kummer. Sie half nachts bei der Navigation der Flüge und schlief tagsüber soviel, wie sie konnte. Sie verlor an Gewicht. Ihr Haar wurde schneeweiß. Alle restlichen grauen und schwarzen Haare waren in der Bürste hängen geblieben. Das Sprechen fiel ihr schwer. Sie fühlte sich, als ob sich ihre Kehle und Innereien versteinert hätten. Es war ihr unmöglich zu weinen, und sie wollte für sich sein. Niemand, den sie trafen, hatte Nahrung zu vergeben; die Vorräte wurden immer knapper. Sie stellten einen strengen Rationierungsplan auf mit halben Portionen.
Und am zweiunddreißigsten Tag ihrer Reise von Laßwitz, nach mehr als zehntausend Kilometern, kamen sie nach Cairo am Südrand von Noctis Labyrinthus, genau südlich vom südlichsten Strang des gefallenen Kabels.
Cairo stand de facto unter Kontrolle der UNOMA, da in der Stadt nie jemand etwas anderes behauptet hatte, und wie alle Kuppelstädte schutzlos den Orbitalen Lasern der UNOMA-Polizeischiffe preisgegeben, die im letzten Monat in den Orbit gebracht worden waren. Zu Beginn des Krieges waren die meisten Einwohner Cairos Araber und Schweizer gewesen; und zumindest schienen Angehörige dieser beiden Nationen nur bemüht zu sein, sich aus dem Unheil herauszuhalten.
Aber jetzt waren die sechs Reisenden nicht die einzigen eintreffenden Flüchtlinge. Eine Flut solcher war gerade von Tharsis herunter nach der Verwüstung in Sheffield und dem Rest von Pavonis. Andere trafen von Marineris ein durch das Labyrinth von Noctis. Die Stadt war vierfach überbelegt. Menschenmassen wohnten und schliefen in den Straßen und Parks. Die Versorgungszentrale war kritisch überlastet. Nahrung und Luft gingen zu Ende.