Hinten beugten sich Nadia und Yeli instinktiv auf der Bambuscouch vor, als ob das helfen würde, den stummen Clip besser zu hören. Die zwei Wochen des Abgeschnittenseins von der Außenwelt waren wie ein Jahr erschienen; und jetzt beobachteten sie hilflos den Bildschirm und sogen jede Information ein, die sie aufschnappen konnten. Yeli stand sogar auf, um den Ton wieder anzustellen, sah aber, dass Frank in seinem Sessel eingeschlafen war mit dem Kinn auf der Brust. Als eine Nachricht vom Ministerium kam, wurde Frank ruckartig wach, drehte den Ton auf, starrte auf die kleinen Gesichter auf dem Schirm und gab mit heiserer Stimme eine knappe Antwort. Dann schloss er die Augen und schlief weiter.
Am Ende der zweiten Nacht der Verbindung über Vesta hatte er Minister Wu dazu gebracht, dass er versprach, die UN in New York zu drängen, die Kommunikation wiederherzustellen und alle Polizeiaktionen zu unterlassen, bis man die Lage beurteilen konnte. Wu wollte sogar versuchen, dass transnationale Kräfte auf die Erde zurückbeordert würden, obwohl das, wie Frank bemerkte, unmöglich sein würde.
Die Sonne war schon vor einigen Stunden aufgegangen, als Frank an Vesta eine abschließende Dankesbotschaft schickte und ausschaltete. Yeli war auf dem Fußboden eingeschlafen. Nadia erhob sich steif und ging zu einem Spaziergang in den Park, wobei sie das Licht ausnutzte, um sich umzuschauen. Sie musste über Körper von Leuten steigen, die im Gras schliefen in Gruppen von drei oder vier oder in Kochlöffelhaltung zusammengedrückt wegen der Kälte. Die Schweizer hatten große Küchen aufgestellt, und Reihen von Nebengebäuden säumten die Stadtmauer. Es sah aus wie auf einem Bauplatz, und mit einem Mal merkte sie, dass ihr Tränen die Wangen hinunterliefen. Sie ging weiter. Es war angenehm, im hellen Tageslicht umhergehen zu können.
Schließlich kehrte sie zu den Stadtbüros zurück. Frank stand vor Maya, die auf einer Couch schlief. Er sah ausdruckslos auf sie hinunter und dann mit trüben Augen zu Nadia hoch. »Sie ist wirklich am Ende.«
»Alle sind wir erschöpft.«
»Hmm. Wie war es mit Hellas?«
»Unter Wasser.«
Er schüttelte den Kopf. »Das muss Sax gefallen.«
»Das habe ich dauernd gesagt. Aber ich glaube, es liegt für ihn zu weit außer Kontrolle.«
»O ja.« Er schloss die Augen und schien für eine oder zwei Sekunden zu schlafen. »Mir tut es leid um Arkady.«
»Ja.«
Wieder Schweigen. »Sie sieht aus wie ein Mädchen.«
»Ein wenig.« Nadia hatte Maya eigentlich nie älter gesehen. Sie gingen alle auf die achtzig zu und konnten nicht Schritt halten, ob mit oder ohne Behandlungen. In ihrem Innern waren sie alt.
»Die Leute auf Vesta haben mir erzählt, dass Phyllis und die restlichen Leute auf Clarke versuchen wollen, in einer Notrakete zu ihnen hinüberzugelangen.«
»Befinden sie sich nicht außerhalb der Ekliptik?«
»Derzeit ja, aber sie wollen zum Jupiter hinunterstoßen und den zu einem Flyby-Manöver zurück ins System benutzen.«
»Wird das nicht etwa ein Jahr dauern?«
»Ja, ungefähr ein Jahr. Ich hoffe, dass sie ihn verfehlen oder in den Jupiter stürzen. Oder dass ihnen die Nahrung ausgeht.«
»Ich habe den Eindruck, dass du Phyllis nicht leiden kannst.«
»Dieses Biest! Sie ist für vieles verantwortlich. Sie hat alle diese Transnationalen herbeigelockt, indem sie ihnen jedes irgendwie nützliche Metall versprochen hat. Sie hat sich eingebildet, die Königin des Mars sein zu können mit all diesen Leuten hinter sich. Du hättest sie da oben auf Clarke sehen sollen, als sie wie ein kleiner Popanz auf den Planeten hinunterblickte. Ich hätte sie erwürgen können. Wie gern hätte ich ihr Gesicht gesehen, als Clarke abhob und davonschoß wie ein Champagnerkorken.« Er lachte rau.
Maya wurde von ihrem Gespräch aufgeweckt. Sie zogen sie hoch und gingen in den Park auf die Suche nach einer Mahlzeit. Sie kamen in eine Warteschlange von Leuten, die in ihre Schutzkleidung gehüllt waren, husteten, die Hände aneinander rieben und Reiffahnen wie weiße Baumwollknäuel ausstießen. Sehr wenige sprachen. Frank betrachtete die Szene mit angewiderter Miene; und als sie ihre Teller mit Röschti und Tabouli erhielten, verschlang er seine Portion und sprach auf arabisch über ein Armbandgerät. Danach berichtete er: »Sie sagen, dass Alex und Evgenia und Samantha mit einigen Beduinenfreunden von mir kommen.«
Das war eine gute Nachricht. Von Alex und Evgenia hatte man zuletzt gehört in Aureum Overlook, einer Bastion der Rebellen, die einige Orbitale UN-Schiffe vernichtet hatte, ehe sie durch Beschuss von Phobos vernichtet wurde. Und von Samantha hatte man während des ganzen Kriegsmonats nichts gehört.
Also gingen alle der Ersten Hundert in der Stadt an diesem Nachmittag zum Nordtor von Cairo, um sie zu begrüßen. Dies Tor lag am oberen Ende einer langen natürlichen Rampe, die zu einem der südlichsten Canyons von Noctis führte. Die Straße stieg vom Boden des Canons auf dieser Rampe empor und sie konnten die ganze Strecke bis dahin überblicken. Dort tauchte am frühen Nachmittag eine Roverkarawane auf, die eine kleine Staubwolke hinter sich herzog und sich langsam bewegte.
Es dauerte fast eine Stunde, bevor die Wagen das letzte Stück der Rampe heraufrollten. Sie waren nicht mehr als drei Kilometer entfernt, als zwischen ihnen große Stichflammen und ausgeworfene Trümmer erschienen, die einige Rover in die Wand der Klippe drückten und manche über den Rand in den Raum schleuderten. Der Rest blieb zertrümmert und brennend stehen.
Dann erschütterte eine Explosion das Nordtor, und sie duckten sich gegen die Mauer. Über die allgemeine Frequenz waren Schreie und Rufe zu hören. Weiter nichts. Sie standen mit dem Rücken zur Wand. Das Material der Kuppel hielt noch, obwohl die Schleuse des Tors offenbar verklemmt war.
Unten auf der Straße stiegen dünne Fahnen aus braunem Rauch in die Luft, flatterten nach Osten und wurden vom Dämmerungswind nach Noctis hinuntergeweht. Nadia schickte einen Robotrover hinunter, um nach Überlebenden zu suchen. Die Armbänder knisterten nur mit Statik, und Nadia war dafür dankbar. Was hätte sie erhoffen können? Schreie? Frank fluchte in sein Armbandgerät und wechselte dabei zwischen Arabisch und Englisch. Er suchte vergeblich herauszufinden, was geschehen war. Aber Alexander, Evgenia, Samantha … Nadia sah ängstlich auf die kleinen Bilder auf ihrem Handgelenk und schwenkte die Robotkameras. Zertrümmerte Rover. Einige Leichen. Nichts bewegte sich. Ein Rover rauchte noch.
»Wo ist Sasha?« schrie Yeli. »Wo ist Sasha?«
Jemand sagte: »Sie war in der Schleuse. Sie wollte gerade zur Begrüßung hinausgehen.«
Sie machten sich daran, die innere Schleusentür zu öffnen. Nadia tastete alle Codes ein und arbeitete dann mit Werkzeug und zuletzt einer Sprengladung, die ihr jemand reichte. Sie zogen sich zurück, und die Schleuse sprang auf wie der Bolzen einer Armbrust. Dann waren sie drin, nachdem sie die schwere Tür mit einem Brecheisen zurückgedrückt hatten. Nadia lief hinein und sank neben Sasha auf die Knie, die sich in der Notfallhaltung mit dem Kopf in der Jacke zusammengekrümmt hatte. Aber sie war bereits tot, das Gesicht blaurot und die Augen erstarrt.