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An der Mauer blickten sie durch das verzogene Gewebe der Kuppel. Draußen im Dunkel rannten Gestalten in Schutzanzügen allein oder in Gruppen zu zweit oder dritt davon, in einer Art Brownscher Molekularbewegung auf den Südrand von Noctis zu. »Wo ist Yeli?« rief Maya plötzlich.

Niemand wusste es.

Dann machte Frank ein Zeichen. »Schaut!«

Im Osten war auf der Straße eine Anzahl Rover aus Noctis Labyrinthus erschienen. Es waren sehr schnelle Wagen von unbekanntem Aussehen, die ohne Scheinwerfer aus dem Dunkel auftauchten.

»Wohin jetzt?« fragte Sax. Er wollte sich fragend an den Führer wenden, aber der Mann war weg, in den Gassen verschwunden.

Eine Stimme sagte: »Ist das noch die Frequenz der Ersten Hundert?«

»Ja!« antwortete Frank. »Wer ist das?«

Maya schrie: »Ist das nicht Michel?«

»Ein gutes Ohr, Maya. Ja, es ist Michel. Seht, wir sind hier, um euch wegzubringen, wenn ihr gehen wollt. Es scheint, dass sie systematisch jeden der Ersten Hundert ausmerzen, an den sie Hand anlegen können. Darum dachten wir, ihr würdet euch gern mit uns zusammentun.«

»Ich denke, wir sind alle bereit, zu euch zu kommen. Aber wie?« sagte Frank.

»Nun, das ist eine raffinierte Sache. Ist bei euch ein Führer aufgekreuzt und hat euch zu der Mauer geleitet?«

»Ja.«

»Gut. Das war Cojote. Der ist gut bei so etwas. Also wartet hier! Wir werden anderswo für einige Ablenkung sorgen und dann direkt zu eurem Abschnitt der Mauer kommen.«

Nach nur einigen Minuten, obwohl es wie eine Stunde schien, erschütterten Explosionen die Stadt. Sie sahen im Norden Lichtblitze, in Richtung des Raumhafens. Michel meldete sich wieder. »Lasst nur eine Sekunde lang eine Helmlampe nach Osten scheinen!«

Sax richtete sein Gesicht nach Osten und stellte seine Helmlampe an, die kurz einen Kegel aus Luft erhellte, die durch Rauch stickig war. Die Sichtweite war auf hundert Meter oder weniger gesunken und schien immer noch abzunehmen. Aber Michels Stimme sagte:

»Kontakt. Nun schneidet euch durch die Wand und kommt heraus! Wir sind beinahe da. Wir werden losfahren, sowie ihr in den Schleusen unserer Rover seid. Seid also vorbereitet! Wie viele seid ihr?«

»Sechs«, sagte Frank nach einer Pause.

»Wundervoll! Wir haben zwei Wagen, darum wird es nicht allzu schlimm sein. Drei von euch in jedem, okay? Macht euch bereit. Wir wollen es schnell machen.«

Sax und Ann schnitten mit kleinen Messern aus ihrem Werkzeugpack an den Handgelenken durch die Kuppelwand. Sie sahen aus wie Kätzchen, die an Gardinen kratzen, schafften aber schnell Löcher, die groß genug zum Hindurchkriechen waren; und sie alle kletterten über die hüfthohe Mauerkrone und hinaus auf den glatten Regolith der Mauereinfassung. Hinter ihnen jagten Explosionen die Versorgungszentralen in die Luft und erhellten die zerstörte Stadt mit zuckendem Licht, die wie Fotoblitze durch den Dunst schnitten und einzelne Momente festhielten, ehe sie im Dunkel verschwanden.

Plötzlich erschienen aus dem Staub die fremdartigen Rover und hielten rutschend vor ihnen an. Sie rissen die äußere Schleusentür auf und drängten sich hinein — Sax, Ann und Simon in die eine, Nadia, Maya und Frank in die andere. Sie purzelten kopfüber, als sich die Rover in Bewegung setzten und mit hoher Beschleunigung wegfuhren. »Au!« schrie Maya.

»Alle an Bord?« fragte Michel.

Sie riefen ihre Namen.

»Gut. Ich bin froh, dass wir euch haben!« sagte Michel. »Es wird ziemlich hart. Dmitri und Elena sind tot, wie ich eben gehört habe. Getötet bei Echus Overlook.«

In der anschließenden Stille konnten sie hören, wie die Reifen über den Kies der Straße knirschten.

Sax bemerkte: »Die Rover sind wirklich schnell.«

»Allerdings. Und mit großartigen Stoßdämpfern. Genau für diese Art von Situation gemacht. Ich fürchte aber, wir werden sie aufgeben müssen, wenn wir nach Noctis hinunterkommen. Sie sind zu gut zu sehen.«

»Habt ihr unsichtbare Wagen?« fragte Frank.

»In gewisser Weise.«

Nach einer halben Stunde des Herumhüpfens in der Schleuse hielten sie kurz an und kletterten in die Haupträume der Rover hinüber. Und in dem einen dort war Michel Duval, weißhaarig und runzlig — ein alter Mann, der Maya, Nadia und Frank mit Tränen in den Augen ansah. Er umarmte sie nacheinander und lachte eigenartig und gedämpft.

»Bringst du uns zu Hiroko?« fragte Maya.

»Ja, wir wollen es versuchen. Aber es ist ein weiter Weg, und die Verhältnisse sind schlimm. Aber ich denke, dass wir es schaffen könnten. Oh, ich bin so froh, dass ich euch gefunden habe! Ihr wisst nicht, wie schrecklich es war, immer nur hinzuschauen und nur Leichen zu finden.«

»Wir wissen«, sagte Maya. »Wir haben Arkady gefunden, und Sasha wurde gerade erst heute getötet und Alex und Edvard und Samantha, und ich vermute auch Yeli eben jetzt …«

»Ja. Aber wir werden uns zu vergewissern suchen, dass es sie nicht mehr gibt.«

Der Fernseher des Rovers zeigte das Innere des nachfolgenden Wagens, wo Ann, Simon und Sax von einem jungen Fremden steif begrüßt wurden. Michel blickte über die Schulter aus der Windschutzscheibe und stieß einen Pfiff aus. Sie waren am Anfang eines der vielen Trog-Canyons, die nach Noctis hinunterführten. Das abgerundete Ende des Canyons fiel steil ab. Die nach unten führende Straße war über eine künstliche Rampe geführt, die als Stütze dafür erbaut war. Aber jetzt war die Rampe verschwunden, mitsamt der Straße durch eine Explosion weggefegt.

»Wir werden zu Fuß gehen müssen«, sagte Michel nach einer Weile. »Wir hätten diese Wagen ohnehin bald aufgeben müssen. Es sind nur ungefähr fünf Kilometer. Sind eure Anzüge voll versorgt?«

Sie füllten ihre Tanks aus den Rovern auf und setzten wieder die Helme auf. Dann ging es durch die Schleusen wieder hinaus ins Freie.

Als sie alle draußen waren, starrten sie einander an: die sechs Flüchtlinge, Michel und der jüngere Fahrer. Sie machten sich in der Dunkelheit zu Fuß auf den Weg. Während des tückischen Abstiegs auf dem abgebrochenen Teil der Straßenrampe ließen sie ihre Stirnlampen eingeschaltet. Als sie wieder auf der Straße waren, schalteten sie sie aus und verfielen auf dem steilen abschüssigen Kiesweg von selbst in die langen, hüpfenden Schritte, die bei diesem Neigungswinkel die bequemste Gangart bildeten. Die Nacht war sternenlos, und der Wind pfiff um sie in den Canyon hinunter, manchmal in so starken Böen, dass es war, als würden sie von hinten geschoben. Es schien so, als ob wirklich ein neuer Staubsturm im Anzug wäre. Sax murmelte etwas über äquatorial gegenüber global, aber es war nicht möglich vorauszusagen, wie er sich entwickeln würde. Michel sagte: »Hoffen wir, dass er global ist. Wir könnten die Deckung gebrauchen.«

»Ich zweifle, ob er es sein wird«, meinte Sax.

»Wohin gehen wir?« fragte Nadia.

»Nun, in Aureum Chaos gibt es eine Notstation.«

Also mussten sie sich durch die ganze Länge von Valles Marineris hindurchquälen — fünftausend Kilometer! »Wie sollen wir das schaffen?« rief Maya.

»Wir haben Canyonwagen. Du wirst sehen«, sagte Michel knapp.

Die Straße war steil, und sie behielten die schnelle Gangart bei, zur Qual für ihre Gelenke. Nadias rechtes Knie fing an zu schmerzen, und ihr Phantomfinger juckte zum ersten Mal seit Jahren wieder. Sie war durstig und fror in dem alten Anzug.

Es wurde so staubig und finster, dass sie ihre Heimleuchten anstellen mussten. Die hüpfenden gelben Lichtkegel reichten kaum bis zur Straßenoberfläche, und beim Blick nach hinten meinte Nadia, sie sahen aus wie eine Kette Tiefseefische, deren leuchtende Flecken auf dem Boden eines großen Ozeans glühten. Oder wie Bergleute in einem stark verqualmten Tunnel. Ein Teil von ihr begann die Situation zu genießen. Es war nur eine kleine Erregung, eine überwiegend physische Empfindung, aber immerhin das erste positive Gefühl, seit sie Arkady gefunden hatte. Ein Vergnügen wie das Phantomjucken ihres verlorenen Fingers, schwach und leicht verwirrend.