Eines Nachts begegnete es ihr wieder im Traum. Sie wachte schweißgebadet auf. Halluzination war eines der Anzeichen von Zusammenbruch im Raum, wie sie wohl wusste. Das geschah recht häufig während langer Aufenthalte in Erdumlaufbahnen. Einige Dutzend Fälle waren aktenkundig. Gewöhnlich fing es damit an, dass die Leute vor dem ständig vorhandenen Hintergrund von Ventilation und Apparaten Stimmen hörten; aber eine recht häufige Alternative war der Anblick eines Arbeitskollegen, der nicht da war, oder noch schlimmer eines Doppelgängers, als ob sich der leere Raum mit Spiegeln angefüllt hätte. Man glaubte, dass Mangel an Sinneseindrücken diese Phänomene bewirkte. Und die Ares auf ihrer langen Reise und keiner Erde zum Anschauen und einer brillanten (und manche könnten sagen: besessenen) Besatzung war als mögliches Risiko erachtet worden. Dies war einer der Gründe, weshalb man den Schiffsräumen eine solche Vielfalt an Farbe und Struktur gegeben hatte, zusammen mit täglich und jahreszeitlich sich änderndem Wetter. Und dennoch hatte sie etwas gesehen, das sie nicht glauben konnte.
Und wenn sie jetzt durch das Schiff ging, schien es ihr, als ob die Crew sich in kleine private Gruppen aufspaltete, die wenig wechselseitige Beziehungen unterhielten. Das Team der Farm verbrachte fast seine ganze Zeit in den Agrarbezirken, nahm seine Mahlzeiten sogar dort auf dem Fußboden ein und schlief (miteinander, wie man raunte) längs der Reihen von Pflanzen. Das medizinische Team hatte in Torus B seine eigene Suite von Räumen, Büros und Labors; und die Leute verbrachten ihre Zeit dort, vertieft in Experimente und Beobachtungen und Konsultationen mit der Erde. Das Flugteam bereitete sich auf den Eintritt in die Marsumlaufbahn vor und ließ jeden Tag mehrere Simulationen laufen. Und der Rest war … zerstreut und schwer zu finden. Wenn Maya durch die Torusse ging, erschienen ihr die Räume leerer als je zuvor. Der Speisesaal D war nie voll. Und dann bemerkte sie bei den getrennten Klumpen von Essenden, die da waren, dass recht häufig Streitereien ausbrachen und sehr rasch gedämpft wurden. Privates Gezänk, aber worum?
Maya selbst saß weniger am Tisch und hörte mehr zu. Man konnte eine Menge über eine Gesellschaft daraus erfahren, welche Gesprächsthemen vorkamen. In diesen Haufen drehte sich das Gespräch fast immer um wissenschaftliche Fragen.
Fachsimpelei: Biologie, Ingenieurwesen, Geologie, Medizin und was auch immer. Über das Zeug konnte man ewig schwatzen.
Wenn aber die Anzahl der Leute bei einer Konversation unter vier sank, dann pflegten sich die Themen zu ändern. Das Fachsimpeln wurde durch Klatsch bereichert (oder gänzlich ersetzt). Und der Klatsch drehte sich immer um jene zwei großen Formen sozialer Dynamik: Sex und Politik. Die Stimmen wurden gesenkt, die Köpfe zusammengerückt, und das Gesprächskarussell drehte sich. Gerüchte über sexuelle Beziehungen wurden verbreiteter, bissiger und komplexer. In einigen Fällen, wie dem unglücklichen Dreieck von Janet Blyleven, Mary Dunkel und Alex Zhalin, wurde es zum Schiffsgespräch. In anderen Fällen blieb es so verborgen, dass man nur flüsterte, begleitet von gehässigen, vielsagenden Blicken. Janet Blyleven pflegte mit Roger Calinks in den Speisesaal zu gehen, und Frank bemerkte zu John mit einem Unterton, der für Mayas Ohren bestimmt war: »Janet denkt, dass wir der Promiskuität huldigen.« Maya wollte ihn ignorieren wie immer, wenn er auf diese zynische Weise sprach, schaute aber später dieses Wort in einem soziobiologischen Lexikon nach und fand, dass Promiskuität bedeutete, dass jedes Männchen sich mit jedem Weibchen paarte.
Am nächsten Tage sah sie Janet neugierig an. Sie hatte keine Ahnung gehabt. Janet war freundlich, sie beugte sich vor, wenn man mit ihr sprach, und hörte wirklich zu. Und sie lächelte häufig. Aber … nun, das Schiff war so gebaut, dass es viel Privatleben sicherte. Ohne Zweifel passierte mehr, als irgend jemand erfahren konnte.
Und könnte es unter diesen geheimen Leben nicht noch ein anderes geheimes Leben geben, das verhehlt wurde oder nur im Zusammensein mit einigen wenigen unter ihnen existierte, einer kleinen Clique ohne Kabale? Eines Tages fragte sie Nadia nach ihrem gewöhnlichen Frühstücksgespräch: »Hast du in letzter Zeit etwas Komisches bemerkt?«
Nadia zuckte die Achseln. »Die Leute sind gelangweilt. Ich meine, es wäre Zeit anzukommen.«
Vielleicht war das alles.
»Hast du von Hiroko und Arkady gehört?« fragte Nadia.
Über Hiroko schwirrten ständig Gerüchte. Maya fand das geschmacklos und störend. Dass die einsame asiatische Frau unter ihnen der Brennpunkt von so etwas sein sollte wie Drachenlady, geheimnisvoller Orient … Unter den wissenschaftlich rationalen Oberflächen der Leute gab es so viel tiefen und mächtigen Aberglauben. Alles könnte passieren, alles war möglich.
Wie ein Gesicht, das man durch ein Glas sieht.
Und so hörte sie mit einem Gefühl von Krampf im Magen zu, wie Sasha Yefremov sich vom Nachbartisch herüberbeugte und auf Nadias Frage antwortete, ob Hiroko sich einen männlichen Harem aufbaute. Das war Unsinn, obwohl eine gewisse Allianz zwischen Hiroko und Arkady für Maya eine beunruhigende Art von Logik hatte. Sie wusste nicht, warum. Arkady war sehr offen in seiner Empfehlung von Unabhängigkeit vom Kontrollzentrum auf der Erde. Hiroko sprach nie darüber. Hatte sie aber in ihren Aktionen nicht schon das ganze Farmteam entfremdet in einen mentalen Torus, in den die anderen nie hineinkommen konnten?
Als Sasha dann aber behauptete, dass Hiroko plante, etliche ihrer Eier mit Sperma aller Männer auf der Ares zu befruchten und dann tiefgefroren für späteres Wachstum auf dem Mars aufzuheben, konnte Maya nur ihr Tablett nehmen und sich zu den Spülmaschinen begeben. Ihr war irgendwie schwindlig. Die Leute wurden wunderlich.
Die rote Sichel wuchs zur Größe eines Halbmonds an, und das Gefühl von Spannung stieg entsprechend, als ob es die Stunde vor einem Gewitter wäre und die Luft voller Staub, Kreosot und statischer Elektrizität. Als ob der Kriegsgott wirklich dort auf dem blutigen Fleck wäre und auf sie wartete. Die grünen Wandverkleidungen in der Ares hatten jetzt gelbe und braune Flecken, und das Licht des Nachmittags war getränkt mit der blassen Bronzefarbe des Natriums.
Die Leute verbrachten Stunden in der Blasenkuppel und beobachteten, was außer John noch niemand von ihnen gesehen hatte. Die Übungsmaschinen wurden ständig benutzt und die Simulationen mit frischem Enthusiasmus ausgeführt. Janet zog durch die Torusse und schickte Videobilder von allen Veränderungen in ihrer kleinen Welt heim. Dann warf sie ihre Brille auf den Tisch und verzichtete auf ihre Stellung als Reporter. Sie sagte: »Schaut, ich bin es müde, ein Außenseiter zu sein. Jedes Mal, wenn ich in einen Raum komme, verstummen alle oder fangen an, ihre offizielle Linie vorzutragen. Das ist so, als ob ich ein Spion für den Feind wäre, verdammt noch mal!«
»Das warst du auch«, sagte Arkady und drückte sie fest an sich.
Zuerst meldete sich keiner, ihren Job zu übernehmen. Houston äußerte Bedauern, dann Rügen und dann verschleierte Drohungen. Jetzt, da sie kurz davor standen, den Mars zu erreichen, bekam die Expedition viel mehr Fernsehzeit; und die Situation konnte eine ›Nova‹ werden, wie Mission Control sich ausdrückte. Sie erinnerte die Kolonisten daran, dass dieser Ansturm von Publizität für das Raumprogramm letztlich alle Arten von Vorteilen zeitigen würde. Darum sollten die Kolonisten filmen und senden, was sie täten, um öffentliche Unterstützung für die späteren Marsunternehmen anzuregen, von denen sie abhängig sein würden. Es war ihre Pflicht, ihre Geschichten zu senden!
Frank erschien auf dem Schirm und schlug vor, dass Mission Control ihre Videoberichte aus Material von Robotkameras zusammenschustern könnte. Hastings, der Chef von Houston, war über diese Antwort sichtlich wütend. Aber dann sagte Arkady mit einem Grinsen, das den Bereich der Frage auf alles ausdehnte: »Was können die machen?«