Maya schüttelte den Kopf. Sie schickten ein übles Signal und enthüllten, was die Videoberichte bis dahin verheimlicht hatten, dass sich nämlich die Gruppe in rivalisierende Cliquen aufspaltete. Worin zum Ausdruck kam, dass es Maya selbst an Kontrolle über die russische Hälfte der Expedition mangelte. Sie wollte schon Nadia bitten, diese Aufgabe zu übernehmen, um ihr einen Gefallen zu tun, als sich Phyllis und einige ihrer Freunde in Torus B freiwillig dafür meldeten. Maya lachte über den Gesichtsausdruck von Arkady und gab ihre Zustimmung. Arkady tat so, als ob es ihn nichts anginge. Maya sagte ärgerlich auf russisch: »Du weißt, dass du eine Chance verfehlt hast! Wirklich eine Chance, unsere Realität zu gestalten!«
»Nicht unsere Realität, Maya. Ihre Realität. Und es ist mir egal, was sie denken.«
Maya und Frank begannen sich über die Aufgabenverteilung nach der Landung zu beraten. In gewissem Umfang war diese schon vorbestimmt durch die Fachgebiete der einzelnen Mitglieder. Aber wegen mehrfacher und übergreifender Qualifikationen und Erfahrungen mussten einige Entscheidungen getroffen werden. Und Arkadys Provokationen hatten zumindest die Wirkung gehabt, dass die Pläne der Bodenstation vor dem Flug jetzt allgemein nur bestenfalls als provisorisch angesehen wurden. Tatsächlich schien aber auch niemand geneigt, die Autorität von Maya oder Frank anzuerkennen, wodurch die Lage gespannt wurde, wenn die Leute erfuhren, woran sie zu arbeiten hatten.
Der Plan vor dem Flug sah die Einrichtung einer Basiskolonie auf der Ebene nördlich von Ophir Chasma vor, dem riesigen nördlichen Arm von Valles Marineris. Das ganze Farmteam wurde dieser Basis zugeteilt, sowie eine Mehrheit des technischen und medizinischen Personals — insgesamt etwa sechzig der hundert Leute. Der Rest würde auf Hilfseinsätze verteilt und sollte ab und zu zur Basis zurückkehren. Die größte Hilfsmission bestand darin, einen Teil der demontierten Ares auf Phobos zu parken und damit zu beginnen, den Mond in eine Raumstation umzuwandeln. Eine weitere kleinere Mission sollte das Basislager verlassen und nach Norden zur Polkappe reisen, um ein Bergbausystem einzurichten, das Eisblöcke zur Basis befördern sollte. Eine dritte Mission sollte eine Reihe geologischer Durchmusterungen ausführen und den ganzen Planeten bereisen — gewiss ein glanzvoller Auftrag. Alle kleineren Gruppen würden für Zeiträume bis zu einem Jahr halb autonom sein. Darum war die Auswahl keine leichte Aufgabe. Sie wussten jetzt, wie lang ein Jahr sein konnte.
Arkady und eine Gruppe seiner Freunde — Alex, Roger, Samantha, Edvard, Janet, Tatiana, Elena — verlangten alle die Tätigkeiten auf Phobos. Als Phyllis und Mary davon hörten, kamen sie zu Maya und Frank, um zu protestieren. »Die versuchen offenbar, Phobos zu übernehmen; und wer weiß, was sie damit machen werden?«
Maya nickte. Sie bemerkte, dass das Frank auch nicht gefiel. Das Problem war, niemand sonst wollte auf Phobos bleiben. Sogar Phyllis und Mary beanspruchten nicht, Arkadys Leute zu ersetzen. Darum war es nicht klar, wie man sich gegen ihn stellen könnte.
Lautere Zwiste entbrannten, als Ann Clayborne ihre Mannschaftsliste für die geologische Erkundung kursieren ließ. Eine Menge Leute wollten da mitmachen; und einige von denen, die auf der Liste fehlten, sagten, sie würden losziehen, ob Ann sie haben wollte oder nicht.
Die Diskussionen wurden häufiger und heftiger. Fast alle an Bord sprachen sich für die eine oder andere Mission aus und empfahlen sich für die endgültigen Entscheidungen. Maya merkte, dass sie jede Kontrolle über das russische Kontingent verlor. Sie wurde wütend auf Arkady. Bei einer allgemeinen Versammlung schlug sie sarkastisch vor, den Computer die Zuweisungen treffen zu lassen. Die Idee wurde ohne Rücksicht auf ihre Autorität verworfen. Sie warf die Hände hoch: »Was können wir denn tun?«
Niemand wusste es.
Sie und Frank berieten sich privat. »Lass uns versuchen, ihnen die Illusion zu geben, dass sie die Entscheidung träfen«, sagte er ihr mit einem flüchtigen Lächeln. Sie erkannte, dass es ihm nicht unlieb war, ihren Misserfolg bei der allgemeinen Versammlung erlebt zu haben. Sie wurde wieder von der Erinnerung an ihr früheres Beisammensein geplagt, und sie schalt sich eine Närrin. Kleine Politbüros pflegten gefährlich zu sein …
Frank ließ alle ihre Wünsche äußern und gab dann auf der Brücke die Ergebnisse bekannt, wobei er für jedermann die erste, zweite und dritte Wahl auflistete. Die geologischen Erkundungen waren beliebt, der Aufenthalt auf Phobos dagegen nicht. Das war schon allgemein bekannt; und die ausgestellten Listen zeigten, dass es weniger Konflikte gab, als es den Anschein gehabt hatte. »Er gibt Klagen darüber, dass Arkady Phobos übernimmt«, sagte Frank bei der nächsten öffentlichen Versammlung, »aber keiner außer ihm und seinen Freunden will diesen Job. Jeder andere möchte auf die Oberfläche hinuntergehen.«
»Wir sollten eigentlich Härtenausgleich erhalten«, schlug Arkady vor.
»Es sieht dir nicht ähnlich, über Ausgleich zu reden«, sagte Frank sanft.
Arkady grinste und setzte sich wieder hin.
Phyllis war missvergnügt. »Phobos wird ein Verbindungsglied zwischen Erde und Mars sein, wie die Raumstationen im Erdorbit. Ohne sie kann man nicht vom einen Planeten zum anderen gelangen. Sie sind das, was Marinestrategen Würgepunkte nennen.«
Arkady sagte zu ihr: »Ich verspreche, meine Hände von deinem Hals zu lassen.«
Frank fuhr auf. »Wir werden alle Teil des gleichen Dorfes sein! Alles, was wir tun, berührt uns alle! Und danach zu urteilen, wie ihr euch benehmt, wird es für uns gut sein, sich von Zeit zu Zeit zu trennen. Ich meinerseits hätte nichts dagegen, Arkady einige Monate nicht sehen zu müssen.«
Arkady verbeugte sich: »Phobos, wir kommen!« Aber Phyllis und Mary und ihre Schar waren immer noch nicht zufrieden. Sie konferierten lange mit Houston; und immer, wenn Maya in Torus B erschien, schienen die Gespräche zu verstummen, und die Augen folgten ihr misstrauisch, als ob die Tatsache, dass sie Russin war, sie automatisch ins Lager Arkadys versetzte. Sie verfluchte sie als Narren und verfluchte Arkady noch mehr. Er hatte all dies angefangen.
Aber am Ende ließ sich schwer sagen, was vor sich ging bei hundert Menschen, die in etwas verstreut waren, das plötzlich als ein so großes Schiff erschien. Interessengruppen, Mikropolitik — es kam wirklich zu Spaltungen. Nur hundert Personen, und dennoch waren sie eine zu große Gemeinschaft, um zusammenzuhalten. Und es gab nichts, das sie oder Frank daran ändern konnten.
Eines Nachts träumte sie wieder von dem Gesicht in der Farm. Sie wachte erschüttert auf und war nicht imstande wieder einzuschlafen. Plötzlich schien alles außer Kontrolle zu sein. Sie flogen durch das Vakuum des Raums im Innern eines kleinen Bündels aus Blechbüchsen, und sie sollte die Leitung dieses verrückten Schiffsungetüms haben. Das war absurd!
Sie verließ ihren Raum und erstieg den Speichentunnel von D zum Zentralschacht. Sie zog sich in die Blasenkuppel, ohne an das Spiel des Tunnelspringens zu denken.
Es war vier Uhr früh. Das Innere der Blasenkuppel war wie ein Planetarium, nachdem das Publikum gegangen ist: still, leer, mit Tausenden von Sternen dicht gedrängt in der schwarzen Hemisphäre der Kuppel. Der Mars hing direkt über dem Kopf, bucklig und deutlich sphärisch, als ob eine steinerne Orange zwischen die Sterne geschleudert wäre. Die vier großen Vulkane waren sichtbare Pockennarben, und die langen Klüfte von Marineris wären auszumachen. Sie schwebte darunter, Arme und Beine gespreizt und langsam rotierend, bemüht, etwas Besonderes in dem engen Interferenzmuster ihrer Emotionen zu empfinden. Wenn sie zwinkerte, strebten kleine kugelige Tränentropfen hinaus und davon zwischen die Sterne.
Die Schleusentür ging auf. John Boone schwebte herein, sah sie und ergriff den Türgriff, um anzuhalten. »Oh, tut mir leid. Darf ich zu dir kommen?«