Aber eines Nachts in seinem Zimmer waren ihre Nerven rebellisch. Sie lag da, unfähig zu schlafen, grübelte über dies und jenes und sagte: »Hältst du es für möglich, einen blinden Passagier auf dem Schiff zu verstecken?«
Er sagte erstaunt: »Nun, ich weiß nicht. Warum fragst du?«
Sie schluckte kräftig und erzählte ihm von dem Gesicht hinter der Algenflasche.
Er richtete sich im Bett auf und starrte sie an. »Bist du sicher, dass es nicht …«
»Es war keiner von uns.«
Er rieb sich das Kinn. »Nun … ich nehme an, wenn er von jemandem aus der Crew Unterstützung fände …«
»Hiroko«, schlug Maya vor. »Ich meine, nicht bloß, weil sie Hiroko ist, sondern wegen der Farm und all dessen. Es würde sein Nahrungsproblem lösen, und es gibt dort eine Menge Versteckplätze. Und er könnte während des Strahlungssturms mit den Tieren Schutz gefunden haben.«
»Die haben eine Menge Rems abbekommen.«
»Er könnte sich aber hinter ihrem Wasservorrat befunden haben. Ein kleiner Einpersonenbunker wäre nicht allzu schwer einzurichten.«
John hatte diese Idee noch nicht recht verdaut. »Neun Monate versteckt!«
»Es ist ein großes Schiff. Es hätte sich machen lassen, nicht wahr?«
»Nun, ich denke, ja. O ja, das ginge wohl. Aber warum?«
Maya zuckte die Achseln. »Ich habe keine Ahnung. Jemand, der mit wollte, aber die Auswahl nicht bestanden hatte. Jemand, der einen Freund oder Freunde hatte …«
»Dennoch! Ich meine, dass viele von uns Freunde hatten, die mitkommen wollten. Dies bedeutet aber nicht, dass …«
»Ich weiß, ich weiß.«
Sie redeten fast eine Stunde lang darüber. Sie diskutierten die möglichen Gründe, die Methoden, die man hätte anwenden können, um einen Passagier an Bord zu schmuggeln, ihn zu verstecken und so weiter. Und dann fühlte Maya sich endlich viel besser und war prächtig gestimmt. John glaubte ihr! Sie fühlte einen Schwall von Erleichterung und Glück und warf die Arme um ihn. »Es ist so gut, mit dir hierüber sprechen zu können!«
Er lächelte. »Maya, wir sind Freunde. Du solltest es schon früher zur Sprache gebracht haben.«
»Ja.«
Die Blasenkuppel wäre ein wundervoller Ort gewesen, um die letzte Annäherung an den Mars zu beobachten, aber sie würden aerodynamisch bremsen müssen, um die Geschwindigkeit herabzusetzen, und die Kuppel würde sich hinter dem Hitzeschild befinden, den sie jetzt anbrachten. Es würde keine Sicht geben.
Durch das aerodynamische Bremsen sparten sie enorme Mengen an Treibstoff, die sonst erforderlich gewesen wären, um langsamer zu werden. Aber es war eine äußerst heikle Prozedur und deshalb gefährlich. Sie hatten einen Spielraum von weniger als einer tausendstel Bogensekunde. Darum begann schon einige Tage vor Eintritt in den Mars-Orbit das Navigationsteam ihren Kurs mit kleinen Brennstößen fast stündlich leicht zu modifizieren und so die Annäherung fein abzugleichen. Als sie dann näher kamen, hielten sie die Rotation des Schiffs an. Die Rückkehr zur Gewichtslosigkeit war auch in den Torussen ein Schock. Maya wurde jäh klar, dass das nicht eine weitere Simulation war. Sie glitt in hohem Bogen durch die zugige Luft der Gänge, sah alles aus einer seltsamen neuen Perspektive, und plötzlich wirkte alles real.
Sie schlief in kurzen Etappen, eine Stunde hier, drei Stunden dort. Jedes Mal, wenn sie sich rührte, hatte sie, in ihrem Schlafsack schwebend, einen Moment der Desorientierung und glaubte wieder in der Novy Mir zu sein. Dann erinnerte sie sich, und Adrenalin peitschte sie munter. Sie eilte durch die Säle des Torus und riss die Wandverkleidungen aus Gold und Bronze herunter. Auf der Brücke traf sie auf Mary oder Raul, oder Marina oder sonst jemand für die Navigation. Alles noch richtig auf Kurs. Sie näherten sich dem Mars so schnell, dass es schien, sie könnten auf den Schirmen sehen, wie er größer wurde.
Sie mussten den Planeten um dreißig Kilometer verfehlen. Das war etwa ein Zehnmillionstel der zurückgelegten Distanz. Kein Problem, sagte Mary mit einem raschen Blick auf Arkady. Bis jetzt waren sie im Mantralauf und hofften, dass keines seiner verrückten Probleme auftauchen würde.
Die nicht mit Navigation beschäftigten Besatzungsmitglieder waren dafür eingesetzt, zu verschalen und alles auf die Dreh- und Stoßkräfte vorzubereiten, die zweieinhalb G mit sich bringen würden. Einige arbeiteten im freien Raum außerhalb des Schiffs, um zusätzliche Hitzeschilde und dergleichen anzubringen. Es war eine Menge zu tun, und dennoch schienen die Tage irgendwie lang zu sein.
Es würde mitten in der Nacht passieren. Darum blieben an diesem Abend alle Lichter eingeschaltet, und niemand ging zu Bett. Jeder hatte einen Posten — manche im Dienst, und die meisten nur abwartend. Maya saß in ihrem Sessel auf der Brücke, beobachtete die Schirme und Monitore und fand, dass sie genau so aussahen, als wäre das Ganze eine Simulation in Baikonur. Sollten sie wirklich in eine Umlaufbahn um den Mars eintreten?
Sie konnten es. Die Ares traf auf die dünne Hochatmosphäre des Mars mit 40000 Kilometern in der Stunde, und sofort fing das Schiff an, heftig zu vibrieren. Mayas Sessel schüttelte sie in raschen, harten Stößen, und es gab ein schwaches, tiefes Dröhnen, als ob sie durch einen Hochofen flogen. Und so sah es auch aus; denn die Schirme erglühten in einem intensiven orangeroten Schein. Komprimierte Luft prallte von den Hitzeschilden ab und fauchte an den Außenkameras vorbei, so dass die ganze Brücke in die Farbe des Mars getönt war. Dann kehrte die Schwere rachsüchtig zurück. Mayas Rippen wurden so gequetscht, dass sie kaum atmen konnte und ihre Sicht unscharf war. Es schmerzte!
Sie pflügten durch die dünne Luft mit einer Geschwindigkeit und in einer Höhe, die so berechnet waren, dass sie in eine von Aerodynamikern als Übergangszustand bezeichnete Strömung gerieten, einen Zustand halbwegs zwischen freier molekularer und Kontinuumsströmung. Freie Molekularströmung wäre vorzuziehen gewesen. Dabei wurde die auf den Hitzeschild treffende Luft zur Seite gedrückt und das resultierende Vakuum hauptsächlich durch molekulare Diffusion aufgefüllt werden. Aber sie bewegten sich dafür zu schnell und konnten nur knapp die entsetzliche Hitze der Kontinuumsströmung vermeiden, bei der sich Luft über den Schild und das Schiff als Teil einer Wellenwirkung bewegte. Das Beste, was sie tun konnten, war, den höchsten möglichen Kurs zu wählen, der sie hinreichend bremsen und in eine Übergangsströmung bringen würde, die zwischen freier molekularer und kontinuierlicher Strömung schwankte und die Fahrt daher bockig machte. Und darin lag die Gefahr. Falls sie auf eine Hochdruckzelle in der Marsatmosphäre stießen, wo Hitze oder Vibration oder Gravitationskräfte irgendeinen empfindlichen Mechanismus beschädigen würden, dann könnten sie in einen von Arkadys Alpträumen genau zu der Zeit geschleudert werden, da sie in ihren Sesseln zusammengepresst wurden und je fast zweihundert Kilogramm ›wiegen‹ würden — etwas, das zu simulieren Arkady nicht recht gelungen war. Maya dachte voller Ingrimm, dass sie in der realen Welt gerade dann, wenn sie gegenüber einer Gefahr am meisten verwundbar waren, auch am hilflosesten waren, damit fertig zu werden.
Aber wie das Schicksal es wollte, war das Wetter in der Stratosphäre des Mars stabil, und sie blieben im Mantralauf, der sich in der Realität als atemberaubende acht Minuten voller Gebrüll und Erschütterungen erwies. Maya konnte sich an keine Stunde erinnern, die so lange gedauert hätte. Sensoren zeigten, dass der Haupthitzeschild bis auf 600 Kelvin erwärmt worden war …
Und dann hörte die Vibration auf. Das Gebrüll verstummte. Sie waren aus der Atmosphäre hinausgeglitten, nachdem sie etwa ein Viertel des Planeten umrundet hatten. Sie waren um etwa 20.000 Kilometer in der Stunde langsamer geworden, und die Temperatur des Hitzeschildes hatte 710 Kelvin erreicht — fast die Obergrenze. Aber die Methode hatte funktioniert. Alles war still. Sie schwebten wieder gewichtslos dahin, nur durch ihre Sitzgurte festgehalten. Es war, als hätten sie völlig aufgehört, sich zu bewegen, als ob sie in reiner Stille schwimmen würden.