Schwankend schnallten sie sich los und flogen wie Geister in der kühlen Luft der Räume, einer Luft, die in ihren Ohren leise ertönte und die Stille betonte. Sie redeten zu laut und schüttelten sich die Hände. Maya fühlte sich benommen und konnte nicht verstehen, was die Leute zu ihr sagten — nicht weil sie sie nicht hören konnte, sondern weil sie nicht acht gab.
Zwölf schwerelose Stunden später führte ihr neuer Kurs wieder auf eine Periapsis in 35.000 Kilometern Entfernung vom Mars. Dort, an der tiefsten Stelle ihrer Umlaufbahn, zündeten sie die Hauptraketen für einen kurzen Impuls, der ihre Geschwindigkeit um etwa hundert Stundenkilometer erhöhte. Danach wurden sie wieder auf den Mars zu gezogen und beschrieben eine Ellipse, die sie bis auf 500 Kilometer an die Oberfläche heranführte. Sie waren jetzt im Orbit.
Jede elliptische Umrundung des Planeten dauerte etwa einen Tag. Während der nächsten zwei Monate würden die Computer Brennstöße ausführen, die ihre Bahn allmählich kreisförmig knapp innerhalb der von Phobos gestalten sollten. Aber die Landegruppen mussten noch davor zur Oberfläche hinuntergehen, während der tiefste Bahnpunkt so niedrig lag.
Sie verstauten die Hitzeschilde wieder und gingen in die Blasenkuppel, um sich umzuschauen.
In dieser Position nahm der Mars fast den ganzen Himmel ein, als ob sie in einem Höhenflugzeug darüber hinzögen. Die Tiefe von Valles Marineris war deutlich, ebenso die Höhe der vier großen Vulkane, deren breite Gipfel über dem Horizont erschienen, noch ehe die umgebende Landschaft in Sicht kam. Überall auf der Oberfläche gab es Krater. Deren runde Innenflächen waren lebhaft sandfarben, ein bisschen heller als die äußeren Gebiete. Vermutlich Staub. Die kurzen gezackten Bergketten waren dunkler als das umgebende Land — eine durch schwarze Schatten unterbrochene Rostfarbe. Aber sowohl die hellen wie die dunklen Farben waren nur leicht anders getönt als das allgegenwärtige rostig orangefarbene Rot, das alle Bergspitzen, Krater, Schluchten, Dünen und sogar der gekrümmte Streifen der von Staub erfüllten Atmosphäre aufwiesen, der hoch über der hellen Kurve des Planeten zu sehen war. Roter Mars! Er war durchbohrend und faszinierend. Das fühlten sie alle.
Sie verbrachten lange Stunden mit Arbeit, und das war endlich richtige Arbeit. Das Schiff musste teilweise zerlegt werden. Der Hauptkörper würde zuletzt in einem Orbit nahe Phobos geparkt werden, um als Rückkehrvehikel für den Notfall dienen zu können. Aber zwanzig Tanks von den äußeren Längen des Nabenschachts brauchten nur von der Ares getrennt und als planetare Landefahrzeuge hergerichtet zu werden, die die Kolonisten in Fünfergruppen hinunterbringen sollten. Das erste davon sollte sofort landen, wenn es abgekoppelt und vorbereitet war. Darum arbeiteten sie schichtweise rund um die Uhr und verbrachten viel Zeit im freien Raum. Sie rückten zu den Essenszeiten müde und heißhungrig an und führten laute Gespräche. Die Langeweile der Reise schien vergessen. Eines Nachts schwebte Maya im Baderaum und machte sich fertig für das Bett. Ihre Muskeln fühlten sich steif an wie seit Monaten nicht mehr. Um sie herum plauderten Nadia und Sasha und Yeli Zudov fröhlich miteinander, und bei dem warmen Schwall von geläufigem Russisch gewann sie plötzlich den Eindruck, dass alle glücklich waren. Sie befanden sich im letzten Moment ihrer Erwartung — einer Erwartung, die schon ein halbes Leben lang in ihren Herzen geruht hatte, oder schon seit ihrer Kindheit — und jetzt plötzlich unter ihnen erblüht war wie die Zeichnung eines Kindes vom Mars. Sie wurde groß und klein, als ob sie in einem Jojo-Spiel vor ihnen vorwärts und rückwärts hüpfte in all ihrem immensen Potential. Tabula rasa, leere Tafel. Eine leere rote Tafel. Alles war möglich, alles konnte passieren. In diesem Sinne waren sie gerade in diesen letzten Tagen vollkommen frei. Frei von der Vergangenheit, frei von der Zukunft, schwerelos in ihrer warmen Luft, wie Geister umherschwebend, um eine materielle Welt auszustatten … Im Spiegel erwischte Maya einen Blick auf das vom Zähneputzen verzerrte Grinsen ihres Gesichts und packte ein Geländer, um ihre Position zu halten. Ihr kam der Gedanke, dass sie vielleicht nie wieder so glücklich sein würde. Schönheit war das Versprechen von Glück, aber nicht das Glück selbst; und die erwartete Welt war oft reicher als irgend etwas Reales. Aber wer konnte das diesmal sagen? Es könnte jetzt sogar endlich die goldene Zeit sein.
Sie ließ das Geländer los und spie Zahnpaste in einen Wasserbeutel. Dann schwebte sie in den Korridor zurück. Komme, was wolle, sie hatten ihr Ziel erreicht. Sie hatten zumindest die Chance für einen Versuch gewonnen.
Die Demontage der Ares bewirkte bei vielen ein seltsames Gefühl. Es war, wie John bemerkte, als ob man eine Stadt zerlegte und die Häuser nach allen Richtungen fortschleuderte. Unter dem Riesenauge des Mars wurden alle ihre Meinungsverschiedenheiten angespannter. Gewiss war es jetzt kritisch, und es war nur noch wenig Zeit. Die Leute diskutierten, offen oder unter der Oberfläche. Es gab jetzt so viele kleine Gruppen, die unter sich berieten … Was war aus jenem kurzen Moment des Glücks geworden? Maya gab hauptsächlich Arkady die Schuld. Er hatte die Büchse der Pandora geöffnet. Hätte sich ohne ihn und seine Reden die Farmgruppe so eng um Hiroko geschart? Hätte das medizinische Team sich so isoliert beraten? Sie meinte, nein.
Sie und Frank arbeiteten angestrengt, um Differenzen auszubügeln und einen Konsens zu schmieden, ihnen das Gefühl zu geben, dass sie immer noch ein geschlossenes Team bildeten. Dies schloss lange Konferenzen mit Phyllis und Arkady, Ann und Sax, Houston und Baikonur ein. Dabei entwickelte sich eine Beziehung zwischen den beiden Anführern, die noch komplexer war als ihre früheren Begegnungen im Park, obwohl die auch dazu gehörten. Maya erkannte jetzt bei den gelegentlichen Anflügen von Sarkasmus bei Frank, dass ihn dieses Erlebnis mehr bewegt hatte, als sie damals dachte. Aber jetzt konnte man nichts mehr daran ändern.
Schließlich wurde die Phobosmission tatsächlich Arkady und seinen Freunden übertragen, hauptsächlich deshalb, weil sie sonst niemand wollte. Es wurde allen ein Platz bei einer geographischen Forschungstour versprochen, wenn sie das wünschten. Und Phyllis und der Rest der ›Houston-Gruppe‹ erhielten die Zusicherung, dass die Einrichtung des Basislagers nach den Plänen aus Houston erfolgen sollte. Sie beabsichtigten auf der Basis zu arbeiten, um zu sehen, dass das auch wirklich geschah. »Fein, fein«, knurrte Frank am Ende einer solchen Konferenz. »Wir werden doch alle auf dem Mars leben; müssen wir denn so darüber streiten, was wir dort tun werden?«
»So ist das Leben«, sagte Arkady fröhlich. »Auf dem Mars oder nicht, das Leben geht weiter.«
Frank spannte die Kinnmuskeln an. »Ich bin hierher gekommen, um so etwas zu entkommen!«
Arkady schüttelte den Kopf. »Das ist dir bestimmt nicht gelungen. Dies ist dein Leben, Frank. Was würdest du ohne es tun?«
Eines Abends kurz vor der Landung kamen sie zusammen und hielten ein Bankett für die gesamte Besetzung ab. Die meisten Lebensmittel waren auf der Farm gewachsen: Pasta, Salat und Brot, dazu Rotwein aus den Beständen, der für einen besonderen Anlass aufgespart war.
Bei einem Dessert aus Erdbeeren erhob sich Arkady, um einen Toast auszubringen. »Auf die neue Welt, die wir jetzt erschaffen!«
Ein Chor von Murren und Applaus. Inzwischen wussten alle, was er meinte. Phyllis ließ eine Erdbeere fallen und sagte: »Schau, Arkady, diese Niederlassung ist eine wissenschaftliche Station. Deine Ideen spielen dafür keine Rolle. Vielleicht in fünfzig oder hundert Jahren. Aber vorerst wird es ähnlich sein wie bei den Stationen in Antarctica.«