Ein hagerer Mann im Smoking stand am Eingang und kratzte sich unschlüssig am Kopf. Der Messdiener schnaubte verärgert. Er hatte vergessen, die Tür abzuschließen. Jetzt war wieder so ein Irrer von der Straße hereingekommen. »Tut mir Leid«, rief der Junge, während er an einem gewaltigen Pfeiler vorbeiging, »wir haben noch geschlossen.«
Schweres Tuch rauschte hinter ihm auf. Bevor der Junge sich umdrehen konnte, wurde sein Kopf in den Nacken gerissen. Eine kräftige Hand legte sich auf seinen Mund und erstickte seinen Aufschrei. Die Hand war schneeweiß, und der Atem des Fremden roch nach Schnaps.
Der hagere Mann im Smoking zog seelenruhig einen kleinen Revolver und richtete ihn auf die Stirn des Jungen. Der Messdiener spürte, wie es in seiner Leistengegend warm und nass wurde. Er hatte sich in die Hose gemacht.
»Hör mir genau zu«, zischte der Mann im Smoking. »Du verschwindest jetzt ganz leise aus der Kirche, und dann rennst du, so schnell und so weit du kannst. Und bleib nicht stehen, kapiert?«
Der Messdiener nickte, so gut es ihm mit der Hand über dem Mund möglich war.
»Solltest du die Polizei rufen … «, der Mann im Smoking drückte dem Jungen die Mündung der Pistole so fest gegen die Stirn, dass es wehtat, » … werde ich dich finden.«
Der Junge flitzte über den Vorplatz der Kirche auf die Straße hinaus, so schnell er konnte, und blieb erst stehen, als ihm die Puste ausging.
86. KAPITEL
Silas hatte sich wie ein Gespenst hinter sein Opfer geschlichen.
Sophie Neveu spürte ihn zu spät. Bevor sie sich umdrehen konnte, bohrte Silas ihr die Pistolenmündung in den Rücken, umschlang sie von hinten mit seinem muskulösen linken Arm und presste sie an seinen riesigen Körper. Entsetzt schrie Sophie auf. Teabing und Langdon fuhren herum. Sie erstarrten, und auf ihren Gesichtern spiegelte sich Angst.
»Was … haben Sie mit Rémy gemacht …?«, keuchte Teabing.
»Im Moment sollte Ihre einzige Sorge sein, dass ich mit dem Schlussstein von hier verschwinde«, sagte Silas gelassen. Die »Bergungsaktion«, wie Rémy sich ausgedrückt hatte, sollte glatt und reibungslos verlaufen. Gehen Sie in die Kirche, schnappen Sie sich den Schlussstein, und dann nichts wie weg. Kein Kampf, keine Schießerei.
Silas hielt Sophie fest an sich gepresst. Seine Hand glitt in ihre Tasche und wühlte darin. Trotz seines alkoholgeschwängerten Atems konnte er den Duft ihres Haares riechen. »Wo ist er?«, knurrte er. Der Schlussstein hatte sich zuvor noch in ihrer Tasche befunden. Wo war er jetzt?
»Was Sie suchen, ist hier«, klang Langdons dunkle Stimme wie ein Echo von der anderen Seite des Rundbaus herüber.
Silas fuhr herum. Langdon wedelte mit dem schwarzen Kryptex in der Luft wie ein Matador mit dem roten Tuch vor einem Stier.
»Stellen Sie es auf den Boden!«, brüllte Silas.
»Zuerst werden Miss Neveu und Sir Leigh die Kirche verlassen«, rief Langdon zurück. »Wir können die Sache unter uns ausmachen.«
Silas schob Sophie grob zur Seite. Die Waffe auf Langdon gerichtet, schritt er auf ihn zu.
»Keinen Schritt näher!«, rief Langdon. »Nicht, bevor die beiden die Kirche verlassen haben!«
»Sie sind nicht in der Position, Forderungen zu stellen.«
»O doch«, sagte Langdon und hob das Kryptex hoch über den Kopf. »Ich werde es fallen lassen, und die Phiole mit dem Essig im Innern wird zerbrechen.«
Silas tat die Drohung mit einem verächtlichen Schnauben ab, doch innerlich packte ihn die Angst. Er versuchte das Zittern der Hand, mit der er die Pistole auf Langdons Kopf gerichtet hielt, zu unterdrücken. »Das würden Sie niemals tun«, sagte er, doch seine Stimme bebte. »Sie würden alles dafür geben, das Geheimnis des Grals zu lüften … .«
»Machen Sie sich nichts vor. Haben Sie nicht schon bewiesen, dass Ihnen viel mehr daran liegt als mir? Sie sind bereit, dafür zu töten!«
Zwölf Meter entfernt spähte Rémy Legaludec aus den Bänken im Anbau herüber. Er war beunruhigt, zitterte vor Anspannung. Das Manöver lief nicht nach Plan. Auf Anweisung des Lehrers hatte er Silas strikt verboten, von der Waffe Gebrauch zu machen, doch nun musste er beobachten, dass dem Albino die Situation immer mehr aus der Hand glitt.
»Lassen Sie die beiden gehen«, verlangte Langdon erneut. Die Hand mit dem Kryptex hoch über dem Kopf, blickte er furchtlos in die Mündung von Silas' Waffe.
In den Augen des Mönchs flammten Zorn und Enttäuschung auf. Rémy packte Entsetzen bei dem Gedanken, dass Silas tatsächlich abdrücken könnte, solange das Kryptex über Langdons Kopf in der Luft schwebte. Es darf nicht zu Boden fallen!
Das Kryptex sollte Rémys Fahrkarte zu Reichtum und Unabhängigkeit sein. Vor etwas mehr als einem Jahr war er lediglich ein fünfundfünfzigjähriger Butler gewesen, der auf Château Villette in Sir Leigh Teabings Diensten stand und sich die Launen dieses unerträglichen Krüppels gefallen lassen musste. Dann aber wurde ihm etwas Außergewöhnliches angetragen. Rémys Verbindung zu Teabing, dem bedeutendsten Gralsforscher der Welt, sollte ihm die Erfüllung all seiner Träume bringen. Von da an hatte ihn jede Minute, die er auf Château Villette verbrachte, dem großen Augenblick näher gebracht – und sehr viel Geld. Ein Drittel von zwanzig Millionen Euro. Genug, um für immer von der Bildfläche zu verschwinden.
Doch nun sah Rémy den Schlussstein in Langdons erhobener Hand im geweihten Rundbau der Temple Church. Wenn Langdon ihn fallen ließ, war alles dahin. Du bist ganz nah dran! Sollst du dein Gesicht zeigen? Rémy überlegte fieberhaft. Der Lehrer hatte es ihm streng untersagt. Und Rémy war der einzige Mensch, der die Identität des Lehrers kannte …
»Sind Sie sicher, dass Silas die Sache übernehmen soll?«, hatte Rémy erst vor einer halben Stunde den Lehrer gefragt, als dieser den Raub des Schlusssteins befohlen hatte. »Ich könnte das genauso gut.«
Doch der Lehrer war nicht umzustimmen gewesen. »Silas hat uns bei den vier Spitzenleuten der Prieuré gute Dienste geleistet. Er wird auch den Schlussstein an sich bringen. Sie bleiben im Hintergrund, verstanden? Wenn Sie sich sehen lassen, müssen die anderen ebenfalls eliminiert werden. Es wurde schon genug getötet. Zeigen Sie auf keinen Fall Ihr Gesicht.«
»Ist gut«, hatte Rémy den Lehrer beruhigt. »Ich werde im Hintergrund bleiben und Silas helfen.«
»Nur damit Sie im Bilde sind, Rémy«, hatte der Lehrer abschließend zu ihm gesagt, »das fragliche Grab befindet sich gar nicht in der Temple Church. Sie brauchen nichts zu befürchten. Diese Leute suchen ohnehin am falschen Ort.«
Rémy konnte es nicht fassen. »Sie wissen, wo das richtige Grab ist?«
»Natürlich. Sie werden es bald von mir erfahren. Aber jetzt los mit Ihnen! Wenn die anderen herausbekommen, wo sich das Grabmal befindet und die Temple Church verlassen, bevor Sie das Kryptex an sich gebracht haben, ist der Gral für uns verloren.«
Der Gral war Rémy im Grunde herzlich egal, aber der Lehrer würde keinen roten Heller herausrücken, solange er den Gral nicht gefunden hatte. Und Langdon war zuzutrauen, dass er hier in der Temple Church den Schlussstein zerschmetterte und damit Rémys Zukunftspläne. Eine unerträgliche Vorstellung.
Rémy entschloss sich zum Eingreifen. Die Waffe in seiner Hand war nur ein kleinkalibriger Medusa-Revolver, aber auf kurze Entfernung war er nicht weniger tödlich als eine größere Waffe.
Er trat aus der Deckung, stürmte in die Rotunde und richtete die Waffe auf Teabings Kopf. »Auf dieses Vergnügen habe ich schon lange gewartet, Sir Leigh!«
Leigh Teabing blieb beinahe das Herz stehen, als Rémy die Waffe auf ihn richtete. Was tut der Kerl? Teabing erkannte den kleinen Medusa-Revolver, den er zum eigenen Schutz im Handschuhfach seiner Limousine aufbewahrte.