Silas rannte die Treppe hinunter. Jemand musste ihn verraten haben, aber wer? Als er das Erdgeschoss erreichte, stürmten weitere Polizisten durch die Haustür in den Eingangsflur. Silas machte kehrt und rannte halb nackt tiefer ins Gebäude hinein. Der Fraueneingang! Jedes Gebäude des Opus Dei hat einen separaten Fraueneingang! Nachdem er mehrere verwinkelte Gänge passiert hatte, stürmte Silas durch eine Küche, an entsetzt kreischendem Küchenpersonal vorbei, das erschrocken vor dem nackten, riesigen Albino zurückprallte, während Töpfe, Schüsseln und Besteck auf den Boden schepperten. Silas rannte am Heizungsraum vorbei durch einen dunklen Gang. Ganz hinten sah er die gesuchte Tür. Ein Fluchtweglämpchen wies ihm den Weg.
Silas sprang durch die Tür hinaus in den Regen – und prallte mit einem Polizisten zusammen, der herangestürmt kam. Silas' nackte Schulter rammte mit voller Wucht die Brust des Beamten. Der Polizist schlug rückwärts aufs Pflaster. Seine Dienstpistole schlitterte klappernd davon. Silas, der auf den Polizisten gestürzt war, hörte Geschrei im Haus; dann kamen Männer herbeigerannt. Silas rollte sich zur Seite und griff nach der herrenlosen Waffe, als vom Türabsatz auch schon ein Schuss knallte. Silas spürte einen stechenden Schmerz unterhalb der Rippen. Brüllend vor Zorn und Schmerz feuerte er zurück. Drei Beamte gingen blutend zu Boden.
Plötzlich ragte ein dunkler Schatten wie aus dem Nichts drohend hinter ihm auf. Die Hände, die Silas' nackte Schultern packten und wütend, schüttelten, fühlten sich wie die Klauen des Teufels an. Der finstere Schatten schrie Silas ins Ohr. NEIN! SILAS, NICHT!
Silas fuhr herum und feuerte. Sein Blick traf sich mit dem des Mannes hinter ihm. Kreischend vor Entsetzen sah Silas, wie Bischof Aringarosa zusammenbrach.
97. KAPITEL
Die Westminster Abbey beherbergt mehr als dreitausend Grabstätten und Sarkophage. Der kolossale Innenraum platzt förmlich aus den Nähten von den sterblichen Überresten berühmter Könige und Staatsmänner, Wissenschaftler und Forscher, Dichter und Musiker. Kapellen und Wandnischen sind bis in den letzten Winkel mit Grabstätten belegt, angefangen vom königlichen Mausoleum Elisabeth der Ersten, die in einem Sarkophag mit Baldachin in einer eigenen Apsis-Kapelle ruht, bis zu den bescheidenen Grabplatten im Fußboden, deren Inschriften von den Füßen der seit Jahrhunderten darüber hinwegschreitenden Gläubigen bis zur Unleserlichkeit abgewetzt sind, sodass es der Phantasie des Betrachters überlassen bleibt, sich auszumalen, wessen Gebeine in den darunter eingelassenen Grabkammern liegen.
Die im gotischen Stile der großen Kathedralen von Amiens, Chartres und Canterbury erbaute Westminster Abbey ist unmittelbar dem Souverän unterstellt. Seit dem Weihnachtstag des Jahres 1066, als das Gotteshaus Schauplatz der Krönung von Wilhelm dem Eroberer war, hat es eine endlose Reihe königlicher Zeremonien und prachtvoller Staatsakte erlebt – von der Kanonisierung Edwards des Bekenners, den Begräbnisfeierlichkeiten für Heinrich den Fünften und Elisabeth die Erste bis hin zur Hochzeit von Prinz Andrew mit Sarah Ferguson und der Trauerfeier für Lady Diana.
Robert Langdon war an der glänzenden Geschichte von Westminster Abbey allerdings kaum interessiert – mit Ausnahme eines Ereignisses: das Begräbnis des zum Ritter geschlagenen genialen Physikers und Mathematikers Sir Isaac Newton.
In London lies a knight a Pope interred.
Langdon und Sophie eilten durch den Portikus am nördlichen Querschiff. Wachleute komplimentierten sie höflich durch die letzte Neuerwerbung der Abbey – einen türrahmengroßen Metalldetektor, wie er neuerdings vor sämtlichen historischen Gebäuden Londons anzutreffen war. Sie nahmen die Hürde ohne Schwierigkeiten und begaben sich zum eigentlichen Eingang.
Als Langdon über die Schwelle der Westminster Abbey trat, verstummten hinter ihm jäh die Geräusche der Außenwelt. Kein Verkehrslärm mehr, kein Rauschen des Regens, nur eine beklemmende Stille, die durch den Kirchenbau wogte, als läge das alte Gemäuer im Gespräch mit sich selbst.
Langdon und Sophie ging es nicht anders als fast allen Besuchern, deren Blick sofort himmelwärts gezogen wird, wo die großen Gewölbebögen förmlich in die Höhe des Raums zu explodieren scheinen. Wie die Stämme riesiger Mammutbäume streben steinerne graue Pfeiler in luftige Schattenwelten empor, wo sie sich elegant über Schwindel erregende Weiten wölben, um auf der anderen Seite wieder zum steinernen Boden herabzufließen. Die breite Quertrasse des nördlichen Seitenschiffs erstreckte sich vor ihnen wie eine Schlucht, rechts und links von Klippen aus buntem Glas flankiert. An sonnigen Tagen war der Boden der Kathedrale ein bunter Flickenteppich aus farbenfrohen Lichtreflexen. Heute jedoch verliehen der Regen und das trübe Licht dem riesigen Gewölbe die gespenstische Aura eines Mausoleums – das dieser Ort in Wahrheit ja auch war.
»Es ist fast niemand hier«, flüsterte Sophie.
Langdon sah seine Erwartungen enttäuscht. Er hatte auf eine große Zahl von Besuchern gehofft. Das Erlebnis in der menschenleeren Temple Church hatte ihm gereicht. Er hatte damit gerechnet, im Gedränge der Touristen eine gewisse Sicherheit zu finden. Doch seine Erinnerung an Menschentrauben in einer lichtdurchfluteten Kathedrale stammten aus der Hauptsaison im Hochsommer. Heute war ein regnerischer Morgen im April. Statt Menschengewimmel und leuchtenden Glasmalereien sah Langdon nur die endlose Weite eines Steinbodens und düstere Nischen ringsum.
»Man hat uns durch einen Metalldetektor geschickt«, meinte Sophie, die Langdons Anspannung spürte. »Hier kommt keiner mit einer Waffe herein.«
Langdon nickte, war aber keineswegs beruhigt. Er hätte lieber die Londoner Polizei bei sich gewusst, doch Sophies Einwand, dass nicht abzusehen sei, wer die Hintermänner waren, hatte ihn davon abgehalten, die Behörden zu informieren.
Sophie hatte natürlich Recht gehabt. »Wir müssen uns das Kryptex zurückholen«, hatte sie Langdon eindringlich ermahnt. »Es ist der Schlüssel für alles Weitere.«
Es ist der Schlüssel zur Rettung von Leigh Teabing.
Es ist der Schlüssel, den Heiligen Gral zu finden.
Es ist der Schlüssel, um herauszufinden, wer hinter alledem steckt.
Um das Kryptex wieder in die Hand zu bekommen, war das Stelldichein am Grab Isaac Newtons unerlässlich. Wer immer das Kryptex besaß – ohne einen Besuch an diesem Grabmal war das letzte Codewort nicht zu knacken. Sophie und Langdon hatten vor, den Räuber des Kryptex hier zu stellen, falls der Betreffende nicht schon hier gewesen und inzwischen über alle Berge war.
Um aus dem ungedeckten Freiraum des Querschiffs herauszukommen, gingen sie in das von Pfeilern abgetrennte düstere Seitenschiff. Langdon konnte das Bild des entführten Leigh Teabing nicht abschütteln, der jetzt vermutlich in seiner eigenen Limousine gefesselt auf dem Boden lag. Wer die Ermordung der Führungsriege der Prieuré angeordnet hatte, war sicher skrupellos genug, jeden eliminieren zu lassen, der ihm im Weg stand. Es erschien Langdon wie eine bittere Ironie des Schicksals, dass Sir Leigh Teabing – ein geadelter Ritter des modernen England – auf der Suche nach einem Geheimnis seines eigenen Landsmanns und Standesgenossen Sir Isaac Newton als Geisel herhalten musste.
»Wo ist es?«, fragte Sophie.
»Das Grabmal!« Langdon wusste es nicht. »Wir müssen einen Führer fragen.«
Es hatte keinen Sinn, ziellos auf eigene Faust zu suchen. Westminster Abbey war wie ein Labyrinth aus Mausoleen, Seitenkapellen und in die Wände eingelassenen begehbaren Grabnischen. Wie die Grande Galerie des Louvre hatte sie nur einen einzigen Eingang – das Portal, durch das Langdon und Sophie soeben hereingekommen waren. Es war leicht, in diese Kirche hineinzukommen, aber fast unmöglich, allein wieder herauszufinden. Eine veritable Mausefalle für Touristen, hatte einer von Langdons Kollegen die Kirche nach einem entsprechenden Abenteuer einmal genannt. Der Grundriss der Kathedrale entsprach traditionsgemäß einem gewaltigen lateinischen Kreuz, doch anders als die meisten Kirchen betrat man sie an der Nordseite, nicht durch das Westportal am Ende des Langhauses; obendrein war außen ein weitläufiger Kreuzgang angebaut. Ein falscher Schritt in den falschen Gewölbegang, und der Besucher fand sich im Labyrinth überdachter und von hohen Mauern umgebener Gänge im Freien nicht mehr zurecht.