»Aber ich kann Ihnen nicht helfen, Leigh. Ich habe keine Ahnung, wie ich das Kryptex aufbekommen soll. Ich konnte Newtons Grab nur kurz in Augenschein nehmen, und selbst wenn ich das Passwort wüsste … « Langdon verstummte. Er hatte schon zu viel gesagt.
» … dann würden Sie es mir nicht verraten?« Teabing seufzte. »Robert, ich bin sehr enttäuscht, dass Sie anscheinend nicht begreifen, wie tief Sie in meiner Schuld stehen. Meine Aufgabe wäre viel einfacher gewesen, hätten Rémy und ich Sie bereits in dem Moment ausgeschaltet, als Sie auf Château Villette erschienen sind. Stattdessen habe ich alles aufs Spiel gesetzt, um einen achtbareren Weg zu beschreiten.«
Langdon blickte auf die Waffe in Teabings Hand. »Das soll achtbar sein?«, rief er aus.
»Es ist Saunières Schuld«, verteidigte sich Teabing. »Hätten er und seine Seneschalle Silas nicht in die Irre geführt, hätte ich ohne Schwierigkeiten in den Besitz des Schlusssteins gelangen können. Wie hätte ich denn ahnen sollen, dass der Großmeister der Prieuré so gewaltige Anstrengungen unternimmt, um mich zu täuschen und den Schlussstein seiner Enkelin zu vermachen – einer Außenstehenden?« Teabing musterte Sophie verächtlich. »Einer Person, deren Wissen so beschränkt ist, dass sie einen Symbolkundler als Babysitter braucht.« Teabings Blick glitt zurück zu Langdon. »Ihr Eingreifen hat sich für mich allerdings als Glücksfall erwiesen. Ihnen ist es zu verdanken, dass der Schlussstein nicht auf ewig in einem Schließfach eingesperrt geblieben ist. Sie haben ihn befreit und sind mit ihm schnurstracks in mein Haus spaziert.«
Wohin sonst hätten wir uns wenden sollen?, dachte Langdon. Die Gemeinde der Gralhistoriker ist klein, und mit Leigh Teabing verbindet mich eine gemeinsame Geschichte.
Teabing blickte selbstgefällig drein. »Als ich hörte, dass der sterbende Saunière Ihnen eine Botschaft hinterlassen hatte, war mir sofort klar, dass Sie in den Besitz einer wertvollen Information der Prieuré gekommen waren. Ich wusste zwar nicht, ob es sich um den Schlussstein selbst oder nur um die Anweisung handelte, wie er zu finden sei, aber da Ihnen die Polizei auf den Fersen war, konnte ich mir ausrechnen, dass Sie früher oder später vor meiner Haustür auftauchen würden.«
Langdon blickte Teabing finster an. »Und wenn wir nicht gekommen wären?«
»Ich hatte mir bereits einen Plan zurechtgelegt, um Ihnen eine hilfreiche Hand entgegenzustrecken. Wie auch immer, der Schlussstein war auf dem Weg zum Château Villette. Dass Sie ihn selbst bei mir abgeliefert haben, macht nur umso deutlicher, dass meine Sache gerecht ist.«
Langdon verschlug es beinahe die Sprache. »Wie bitte?«
»Silas sollte ins Château Villette einbrechen und Ihnen den Schlussstein rauben – womit Sie unbeschadet aus dem Spiel gewesen waren, und mir hätte niemand eine Komplizenschaft nachsagen können. Doch als ich erkannte, wie kompliziert Saunières Verschlüsselungen waren, habe ich beschlossen, Sie noch ein bisschen länger in meine Suche einzubinden. Später, wenn mein Wissen ausreichte, die Suche allein weiterzuführen, konnte Silas den Schlussstein immer noch an sich bringen.«
»In der Temple Church«, sagte Sophie, und ihre Stimme bebte vor Enttäuschung.
Die Temple Church war tatsächlich der perfekte Ort gewesen, um Langdon und Sophie den Schlussstein abzunehmen. Die scheinbar offensichtliche Beziehung dieser Kirche zu dem rätselhaften Vierzeiler machte sie zu einem plausiblen Ziel – und einer perfekten Falle. Rémys Anweisung war eindeutig gewesen: aus dem Blickfeld bleiben, bis Silas den Schlussstein an sich gebracht hatte. Leider hatte Langdons Drohung, das Kryptex auf dem Boden zu zerschmettern, Rémy in Panik geraten lassen. Mit Bedauern dachte Teabing an seine vorgetäuschte Entführung. Wäre Rémy doch in der Versenkung geblieben! Er war die einzige Verbindung zu dir, und dieser Narr hat sein Gesicht gezeigt!
Silas hingegen war zum Glück verborgen geblieben, dass Teabing der geheimnisvolle »Lehrer« war; deshalb war es ein Leichtes gewesen, mit Silas' Hilfe Teabings Entführung zu inszenieren und ihn in ahnungsloser Unschuld zusehen zu lassen, wie Rémy den »Entführten« hinten in der Limousine »in Fesseln« legte. Nachdem die schalldichte Trennscheibe hochgefahren war, konnte Teabing in aller Ruhe Silas vorn auf dem Beifahrersitz anrufen und ihn mit dem gespielten französischen Akzent des Lehrers ins Ordenshaus von Opus Dei schicken. Ein anonymer Anruf bei der Polizei hatte genügt, Silas kaltzustellen.
Damit war dieses Problem gelöst.
Das nächste Problem war kniffliger gewesen: Rémy.
Die Entscheidung war Teabing schwer gefallen, doch Rémy hatte sich nun einmal als Risikofaktor erwiesen. Die Gralssuche verlangt Opfer. Die sauberste Lösung hatte Teabing in der Bar der Limousine entdeckt – einen Flachmann mit Cognac und eine Dose Erdnüsse. Der salzige Bodensatz der Dose hatte ausgereicht, um bei Rémy einen tödlichen Allergieschock auszulösen. Als Rémy den Wagen auf Horse Guards Parade geparkt hatte, war Teabing hinten ausgestiegen, nach vorn zur Beifahrertür gegangen und hatte sich neben Rémy gesetzt. Kurze Zeit später war er wieder ausgestiegen, hatte hinten im Wagen sämtliche Spuren beseitigt und sich dann aufgemacht, den letzten Teil seiner Mission zu erfüllen.
Westminster Abbey war nur ein kurzes Stück zu Fuß entfernt. Teabings Beinschienen, Krücken und der Revolver hatten natürlich den Metalldetektor ausgelöst, aber die Amateurpolizisten am Eingang waren mit der Situation heillos überfordert. Man kann den Mann doch nicht bitten, die Beinschienen abzulegen und auf allen vieren durch die Schleuse zu kriechen. Und einen Behinderten abtasten geht ja wohl auch nicht. Teabing lieferte den hilflosen Wachmännern die einfachste Lösung – eine Kennkarte mit geprägtem Wappen, mit der er sich als Angehöriger des britischen Adels auswies. In ihrem Eifer, Teabing zu helfen, waren die armen Kerle sich gegenseitig beinahe auf die Füße getreten.
Nun richtete Teabing den Blick auf Sophie und Langdon. Nur mit Mühe widerstand er der Versuchung, sie in die geniale Finte einzuweihen, mit der er Opus Dei ins Geschehen mit einbezogen hatte und wie er der katholischen Kirche in Kürze eine Katastrophe bescheren würde. Aber das musste noch warten. Im Moment hatten andere Dinge Vorrang.
»Mes amis«, sagte Teabing in tadellosem Französisch, »vous ne trouvez pas le Saint-Graal, c'est le Saint-Graal qui vous trouve.« Du wirst den heiligen Gral nicht finden, der Heilige Gral findet dich. Er lächelte. »Der Weg, den wir von nun an gemeinsam gehen werden, könnte klarer nicht sein. Der Gral hat uns gefunden.«
Stille.
Teabing senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Können Sie es hören? Hören Sie es? Der Gral spricht zu uns, über die Jahrhunderte hinweg. Er fleht uns an, ihn vor der Torheit der Prieuré zu retten. Und ich flehe Sie an, diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Hier und jetzt sind jene drei Menschen beisammen, die am ehesten fähig sind, das letzte Codewort zu knacken und das Kryptex zu öffnen.« Teabing hielt inne. Seine Augen leuchteten. »Wir müssen einen Schwur anlegen und uns gegenseitiges Vertrauen geloben. Wir müssen ein ritterliches Bündnis schließen, die Wahrheit zu enthüllen und zu verbreiten.«
Sophie starrte Teabing unversöhnlich in die Augen. »Ich werde dem Mörder meines Großvaters niemals etwas schwören«, stieß sie hervor, »es sei denn, ihn hinter Gitter zu bringen.«