»Das kommt gar nicht in Frage!«, erklärte Aringarosa kategorisch. »Und das werde ich Seiner Heiligkeit persönlich mitteilen!«
»Ich befürchte, Seine Heiligkeit legt auf eine persönliche Aussprache keinen Wert mehr.«
Aringarosa erhob sich. »Er wird es nicht wagen, eine von seinem Vorgänger eingerichtete persönliche Prälatur aufzukündigen!«
»Tut mir Leid«, sagte der Kardinalstaatssekretär leidenschaftslos. »Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen.«
Bestürzt war Aringarosa nach New York zurückgekehrt.
Einige Wochen später bekam er den Anruf, der alles verändert hatte. Der Anrufer schien ein Franzose zu sein und stellte sich als der Lehrer vor – ein gängiger Titel in der Prälatur. Er sagte, er habe davon erfahren, dass der Vatikan Opus Dei die Unterstützung aufkündigen wolle.
Wie hat er das erfahren?, hatte Aringarosa sich gefragt. Er hatte gehofft, dass nur ein paar Männer an den wichtigsten Schaltstellen des Vatikans über die drohende Aufkündigung der Prälatur im Bilde seien, doch die Neuigkeit hatte offensichtlich schon die Runde gemacht. Was Klatsch anbelangte, gab es keine poröseren Mauern als die des Vatikans.
»Exzellenz, ich habe meine Ohren überall«, hatte der Lehrer geflüstert, »und die haben mir gewisse Neuigkeiten zugetragen. Mit Ihrer Hilfe wird es mir möglich sein, das Versteck einer heiligen Reliquie aufzuspüren, die Ihnen unvorstellbare Macht verschaffen wird … so viel Macht, dass selbst der Vatikan das Haupt vor Ihnen wird beugen müssen.« Der Anrufer zögerte. »Nicht nur vor Opus Dei. Vor uns allen.«
Der Herr hat's genommen, der Herr hat's gegeben. Aringarosa hatte einen wärmenden Sonnenstrahl der Hoffnung verspürt. »Erklären Sie mir Ihren Plan.«
Bischof Aringarosa war bewusstlos, als die automatischen Türen des St. Mary's Hospitals sich zischend vor ihm öffneten. Halb ohnmächtig vor Erschöpfung taumelte Silas herein, brach in die Knie und rief um Hilfe. Im Empfangsbereich fuhren alle herum und starrten entsetzt auf den halb nackten, riesenhaften Albino und den blutverschmierten Geistlichen, den der Hüne hereingeschleppt hatte.
Der herbeigeeilte Arzt machte ein bedenkliches Gesicht, nachdem Silas ihm geholfen hatte, den halb bewusstlosen Aringarosa auf die Rollbahre zu legen. »Der Verletzte hat schon sehr viel Blut verloren. Ich kann Ihnen keine großen Hoffnungen machen.«
Aringarosas Lider zuckten. Für einen Moment richtete sein Blick sich auf Silas' Gesicht. »Mein Sohn … «
In Silas' Innerm fochten Reue und Wut einen erbitterten Kampf aus. »Vater, ich werde den Betrüger finden und zur Strecke bringen – und wenn es Jahre dauert!«
Aringarosa schüttelte matt den Kopf. »Silas, bitte«, sagte er mit traurigem Blick, »wenn du sonst nichts von mir gelernt hast, beherzige wenigstens diesen einen Grundsatz.« Er nahm Silas' Hand und drückte sie fest. »Gottes größtes Geschenk ist die Vergebung.«
»Aber Vater … «
Aringarosa schloss die Augen. »Du musst beten, Silas.«
101. KAPITEL
Robert Langdon stand unter der hohen Kuppel des verlassenen Kapitelhauses und starrte in die Mündung von Leigh Teabings Revolver.
Sind Sie für oder gegen mich, Robert? Teabings Frage hallte in Langdons Kopf wider.
Eine vertretbare Antwort darauf gab es nicht. Sagte er ja, war Sophie aus dem Spiel, sagte er nein, hatte Teabing keine andere Wahl, als sie beide zu töten.
Langdons langjährige Erfahrung im Hörsaal hatte ihn zwar nicht darauf vorbereitet, wie man sich verhält, wenn man mit einer Waffe bedroht wird, aber er hatte gelernt, mit paradoxen Fragen fertig zu werden. Wenn eine Frage keine richtige Antwort zulässt, gibt es nur eine Lösung.
Die Grauzone zwischen ja und nein.
Stille.
Den Blick fest auf das Kryptex in seiner Hand geheftet, trat er ein paar Schritte nach hinten auf die freie Fläche des riesigen Saals. Neutraler Boden. Langdon spekulierte darauf, dass Teabing seine Konzentration auf das Kryptex als Zeichen der Bereitschaft zur Zusammenarbeit interpretierte. Der britische Gralsforscher rechnete offenbar damit, die Berührung des marmornen Kryptex werde Langdon die Erhabenheit und Einzigartigkeit des Inhalts spüren lassen und seine wissenschaftliche Neugier auf eine Weise herausfordern, dass er alles andere darüber vergaß. Langdon sollte erkennen, dass ein bedeutendes Stück Geschichte für immer verloren ging, wenn es ihm nicht gelang, das Kryptex zu öffnen.
Langdon sah Sophie wie erstarrt vor der vorgehaltenen Waffe stehen. Die Entschlüsselung des Passworts für das Kryptex bot die wohl einzige Chance, Sophies Leben zu retten. Wenn du den Wegweiser in die Hand bekommst, wird Teabing verhandeln müssen. Langdon zwang sich zur Konzentration. In tiefes Nachdenken versunken, ging er zu den großen Fenstern hinüber. Die astronomischen Abbildungen auf Newtons Grabmal gingen ihm durch den Kopf.
Such die Kugel, die auf dem Grab sollt' sein. Mit rosig Fleisch und samenschwerem Leib.
Den anderen den Rücken zugewandt, trat Langdon an die hohen Fenster und versuchte, deren Glasmalereien irgendeine Anregung zu entnehmen.
Es gab keine.
Du musst dich in Saunières Lage versetzen, ermahnte er sich und schaute hinaus in den College Garden. Was für eine Kugel müsste seiner Meinung nach auf Newtons Grab sein! Bilder von Sternen, Planeten und Kometen zogen vor Langdons geistigem Auge vorüber, während draußen der Regen rauschte. Saunière war kein Mann der Naturwissenschaften gewesen. Er war ein Mann, dem das Geschick der Menschen, die Kunst und die Geschichte am Herzen lagen. Das göttlich Weibliche … der Kelch … die Rose … die Verleugnung Maria Magdalenas … der Sturz der Göttinnen … der Heilige Gral …
In den Legenden tauchte die Gralserscheinung immer wieder in Gestalt einer herzlosen Verführerin auf, die im Zwielicht aufreizend vor ihrem Verfolger hertanzt und ihn flüsternd ins Ungewisse lockt, um sich unversehens in Nebelschwaden aufzulösen.
Langdon betrachtete das schaukelnde Geäst der Obstbäume im College Garden. Er spürte die Anwesenheit der verspielten Verführerin. Ihre Zeichen waren allgegenwärtig. Im feuchten Dunst fiel Langdons Blick auf die geisterhaften Silhouetten der ältesten Apfelbäume Englands und ihre feuchten, fünfblättrigen Blüten, schimmernd wie die Venus. Die Göttin hatte sich im Garten eingefunden, tanzte im Regen, sang die uralten Lieder und lugte spitzbübisch hinter den knorrigen, knospentragenden Ästen hervor – wie zum Zeichen für Langdon, dass die Frucht der Erkenntnis nur eine Armeslänge von ihm entfernt wuchs.
Zufrieden verfolgte Teabing von der anderen Seite des Saales, wie Langdon gleichsam unter einem Bann aus dem Fenster starrte.
Genau wie ich es erhofft habe, dachte er. Er schwenkt auf meine Linie ein.
Seit einiger Zeit schon hatte Teabing vermutet, dass Langdon auf den Schlüssel zum Gral gestoßen war. Es war keineswegs ein Zufall, dass Leigh Teabing in jener Nacht zur Tat geschritten war, in der Langdon und Jacques Saunière zusammentreffen wollten. Beim Abhören der Gespräche des Museumsdirektors war Teabing zu der Überzeugung gelangt, dass Saunières Absicht, sich mit Langdon zu treffen, nur eines bedeuten konnte: Langdons unveröffentlichtes Manuskript hat einen Nerv der Prieuré getroffen. Teabing war sicher gewesen, dass der Großmeister Langdon dazu bewegen wollte, Stillschweigen zu wahren.