Aber die Wahrheit war schon lange genug verschwiegen worden.
Silas' Anschlag hatte zwei Ziele erreicht. Zum einen hatte er verhindert, dass Saunière mit Langdon zusammengetroffen war, zum anderen hatte er dafür gesorgt, dass Langdon in Paris greifbar blieb, falls Teabing ohne seine Hilfe mit dem Schlussstein nicht fertig wurde.
Das für Saunière tödliche Treffen mit Silas zu arrangieren war fast schon zu einfach gewesen. Teabing hatte nur auf der Klaviatur der schlimmsten Ängste Saunières zu spielen brauchen. Am gestrigen Nachmittag hatte er Silas den Auftrag erteilt, den Museumsdirektor anzurufen. Silas hatte Saunière am Telefon einen Priester in Gewissensnöten vorgespielt. »Monsieur Saunière, verzeihen Sie meine Ungeduld, aber ich muss Sie sofort sprechen. Ich habe soeben einem Mann die Beichte abgenommen, der sich dazu bekannt hat, Ihre Angehörigen ermordet zu haben. Gegen das Beichtgeheimnis zu verstoßen ist normalerweise undenkbar für mich, aber in diesem Fall werde ich mich darüber hinwegsetzen … «
Saunière hatte erschrocken, zugleich aber vorsichtig reagiert. »Meine Angehörigen sind bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Der Bericht der Polizei war eindeutig.«
»Ganz recht, Ihre Angehörigen sind mit dem Wagen verunglückt. Doch der Mann hat mir anvertraut, dass er den Wagen von einer Brücke in den Fluss gedrängt hat.«
Saunière war verstummt.
»Monsieur Saunière, ich hätte mich niemals mit Ihnen in Verbindung gesetzt, hätte dieser Mann nicht eine Bemerkung gemacht, die mich nun um Ihre Sicherheit fürchten lässt.« Der Anrufer zögerte. »Auch Ihre Enkelin Sophie ist in Gefahr.«
Die Erwähnung Sophies hatte wie ein Zündfunke gewirkt. Saunière hatte Silas aufgefordert, unverzüglich zu ihm zu kommen, zum sichersten Ort, den der Museumsdirektor kannte – sein Büro im Louvre. Dann hatte er Sophie angerufen, um sie zu warnen. Die Verabredung mit Langdon war vergessen …
Während Teabing nun Langdon auf der anderen Seite des Saales beobachtete, hatte er das Gefühl, erfolgreich einen Keil zwischen Langdon und Sophie getrieben zu haben. Sophie gefiel sich in ihrer trotzigen Haltung, doch Langdon schien sich nach wie vor zu bemühen, das Passwort zu knacken.
Er hat begriffen, wie wichtig es ist, den Gral zu finden und aus seinem Gefängnis zu befreien.
»Für Sie wird er das Kryptex nicht öffnen«, sagte Sophie, als hätte sie Teabings Gedanken gelesen. »Selbst wenn er es könnte.«
Teabing richtete den Blick auf Sophie. Er war inzwischen sicher, dass er die Waffe benutzen musste. Sosehr ihm dieser Gedanke missfiel, wusste er doch, dass er keine Sekunde zögern würde, wenn es so weit war. Du hast ihr jede Chance gelassen, sich auf die richtige Seite zu schlagen. Und der Gral ist bedeutender als wir alle.
In diesem Moment wandte Langdon sich vom Fenster ab. »Das Grabmal … «, sagte er unvermittelt, und in seinen Augen glomm ein schwacher Hoffnungsfunke. »Ich glaube, ich weiß jetzt, an welcher Stelle an Newtons Grab ich nachsehen muss, um das Passwort zu finden.«
Teabings Herz setzte einen Schlag aus. »Wo? Sagen Sie es mir!«
»Nein, Robert!«, rief Sophie. Ihre Stimme überschlug sich beinahe vor Entsetzen. »Wollen Sie ihm etwa helfen? Das kann nicht sein!«
Langdon kam mit entschlossenen Schritten näher, das Kryptex in der rechten Hand. Sein Blick wurde hart. »Zuerst müssen Sie Sophie gehen lassen«, sagte er zu Teabing.
Teabings Optimismus geriet ins Wanken. »Robert, wir stehen ganz dicht vor der Lösung eines der größten Rätsel der Menschheit! Lassen Sie jetzt die Spielchen.«
»Das ist kein Spielchen. Lassen Sie Sophie laufen. Dann werde ich mir Ihnen zu Newtons Grabmal gehen, und wir öffnen gemeinsam das Kryptex.«
»Ich gehe nicht. Niemals!«, stieß Sophie zornig hervor. Ihre Augen hatten sich zu Schlitzen verengt. »Das Kryptex wurde von meinem Großvater an mich übergeben. Es steht Ihnen nicht zu, es zu öffnen!«
Langdon blickte Sophie an. In seinen Augen spiegelte sich Angst. »Sophie, Sie sind in Gefahr! Ich versuche doch nur, Ihnen zu helfen!«
»Indem Sie das Geheimnis ans Licht zerren, zu dessen Schutz mein Großvater sein Leben gelassen hat? Robert, Saunière hat Ihnen vertraut. Ich habe Ihnen vertraut!«
Panik kroch in Langdons Blick. Teabing musste unwillkürlich lächeln. Langdons klägliches Bemühen um Ritterlichkeit war geradezu komisch. Da ist dieser Mann im Begriff, eines der größten Rätsel der Menschheitsgeschichte zu lösen, und ihm fällt nichts Besseres ein, als sich mit einer dummen Ziege zu streiten, die längst bewiesen hat, dass sie der Gralssuche nicht würdig ist.
»Bitte, Sophie«, flehte Langdon, »Sie müssen weg von hier!«
Sie schüttelte den Kopf. »Wenn ich gehen soll, müssen Sie mir das Kryptex mitgeben – oder es vernichten.«
»Was?«
»Robert, meinem Großvater wäre es lieber gewesen, sein Geheimnis für immer untergehen zu sehen, als es in den Händen seines Mörders zu wissen.« Ihre Augen schimmerten feucht, doch ihr Blick blieb fest. Sie sah Teabing an. »Erschießen Sie mich! Aber ich werde das Vermächtnis meines Großvaters niemals in Ihre schmutzigen Hände geben!«
Teabing legte auf Sophie an.
»Nein!«, rief Langdon und hielt das Kryptex hoch über den harten Steinfußboden. »Nehmen Sie die Waffe weg, Leigh, oder ich lasse es fallen.«
Teabing lachte auf. »Damit konnten Sie Rémy beeindrucken, aber mich nicht. Ich kenne Sie besser. Nun mal ehrlich, Robert. Sie behaupten zu wissen, an welcher Stelle des Grabmals Sie nachschauen müssen?«
»Ja.« Doch das unmerkliche Flackern in Langdons Blick war Teabing nicht entgangen. Langdon log. Es war ein verzweifelter Täuschungsversuch, um Sophie zu retten. Teabing empfand nur noch tiefe Verachtung für diesen Mann. Du bist ein einsamer Ritter inmitten von Kleingeistern. Dann musst du das Passwort eben allein knacken.
Langdon und Sophie waren für Teabing nur noch ein Klotz am Bein; eine Bedrohung für ihn und den Gral. Die beiden zu beseitigen, besonders Robert Langdon, war zwar eine unangenehme Aufgabe, doch Teabing würde sie erledigen. Es blieb nur noch die knifflige Aufgabe, Langdon dazu zu bewegen, das Kryptex abzusetzen, damit Teabing dieses Possenspiel ohne Risiko zu Ende bringen konnte.
Teabing senkte die Waffe. »Als Zeichen meines Vertrauens«, sagte er. »Und jetzt stellen Sie bitte das Kryptex hin. Wir müssen vernünftig miteinander reden.«
Langdon wusste, dass sein Täuschungsversuch gescheitert war.
Er sah die Entschlossenheit auf Teabings Gesicht. Der Moment der Wahrheit war gekommen. Sobald er das Kryptex auf den Boden stellte, würde Teabing ihn und Sophie töten …
Doch Langdon hatte seinen Entschluss schon vor ein paar Minuten gefasst, als er aus dem Fenster in den College Garden hinaus geschaut hatte.
Denn dort hatte er die Wahrheit gesehen. Direkt vor seinen Augen. Ganz unvermittelt. Er wusste nicht, woher die Erleuchtung plötzlich gekommen war, doch es war keine Sinnestäuschung gewesen.
Der Gral hat sich eine würdige Seele gesucht.
Er würde Sophie beschützen.
Er würde den Gral beschützen.
Doch nun stand er vor Teabing wie ein demütiger Untertan vor seinem Herrscher und beugte sich vor, um das Kryptex langsam auf dem Steinboden abzusetzen. Nur noch ein paar Zentimeter …
»Ja, Robert«, flüsterte Teabing und richtete den Revolver auf' ihn, »stellen Sie es brav hin.«
»Tut mir Leid, Leigh.«
In einer einzigen fließenden Bewegung richtete Langdon sich plötzlich auf und schleuderte das Kryptex mit weit ausholendem Schwung nach oben in die Gewölbekuppel des Kapitelhauses.
Mit ohrenbetäubendem Krachen löste sich der Schuss aus dem Medusa-Revolver. Teabing hatte nicht einmal den Druck seines Fingers am Abzug gespürt. Langdon hechtete instinktiv zur Seite, als das Geschoss dicht neben seinen Füßen auf den Boden schlug und mit hohlem Jaulen als Querschlager vom Stein abprallte. Ein Teil von Teabings Innerm wollte abermals feuern, ein anderer Teil jedoch war viel, viel stärker und zwang ihn, den Blick nach oben ins Gewölbe zu richten.