Einige Augenblicke vergingen. Fache strich sich mit der Hand über das an die Kopfhaut geklatschte pomadisierte Haar und blickte Aringarosa an. »Exzellenz, bevor ich nach Paris zurückkehre, muss ich noch eine letzte Angelegenheit mit Ihnen klären. Es geht um den Flug nach London, den Sie so spontan unternommen haben. Sie haben den Piloten durch Bestechung veranlasst, den Kurs zu ändern – womit Sie eine ganze Reihe international gültiger Regeln verletzt haben.«
»Ich … ich war völlig verzweifelt«, erwiderte Aringarosa kleinlaut.
»Sicher, sicher. Der Pilot übrigens auch, als meine Leute ihn verhört haben.« Fache griff in die Tasche und holte einen Amethystring mit einer Einlegearbeit hervor, die Mitra und Krummstab zeigte.
Tränen traten Aringarosa in die Augen. Er nahm den Ring entgegen und steckte ihn an den Finger. »Sie waren sehr gut zu mir.« Er ergriff Faches Hand und drückte sie. »Ich danke Ihnen.«
Fache ließ die Geste äußerlich unbewegt über sich ergehen. Er wandte sich ab, trat ans Fenster und blickte geistesabwesend hinaus über die Dächer der Stadt. Als er sich wieder umwandte, wirkte er unsicher. »Exzellenz, wohin führt Sie der Weg von hier?«
Bei Aringarosas Aufbruch am Vorabend in Castel Gandolfo hatte man ihm diese Frage schon einmal gestellt. »Mein zukünftiger Weg dürfte so ungewiss sein wie der Ihre, Capitaine Fache.«
»Ja, mag sein.« Fache zögerte. »Aber ich werde wohl bald in den Ruhestand gehen.«
Aringarosa lächelte. »Ein wenig Glauben kann Wunder bewirken, Capitaine. Nur ein ganz klein wenig.«
104. KAPITEL
Rosslyn Chapel – oft auch als die »Kathedrale der Codes« bezeichnet –, erhebt sich knapp zwölf Kilometer südlich von Edinburgh an der Stelle eines alten Mithrastempels. Die von Nachfahren der Tempelritter im Jahr 1446 erbaute Kapelle ist mit einer verwirrenden Fülle von Symbolen aus christlichen, jüdischen, ägyptischen und heidnischen Überlieferungen und aus dem Repertoire der dem Freimaurertum vorangehenden Bauhütten versehen.
Die geographischen Koordinaten der Kapelle stimmen genau mit dem durch Glastonbury verlaufenden Nord-Süd-Meridian überein. Diese longitudinale Rosenlinie wird der Überlieferung zufolge als Markierung von König Artus Insel Avalon betrachtet und gilt als zentrale Bezugsachse der heiligen Geometrie Britanniens. Die heilige Rosenlinie hat Rosslyn – früher schrieb man es Roslin – den Namen gegeben.
Der gedrungene Bau der Kapelle warf lange abendliche Schatten, als Robert Langdon und Sophie Neveu mit ihrem Mietwagen auf den grasbewachsenen Parkplatz am Fuß des Steilhangs vor der Kapelle fuhren. Der kurze Flug von London nach Edinburgh war erholsam gewesen, auch wenn sie in gespannter Erwartung des Kommenden beide keinen Schlaf gefunden hatten. Beim Blick hinauf zu dem Bauwerk, das sich scharf und markant gegen den Abendhimmel abzeichnete, kam Langdon sich vor wie Alice im Wunderland, nachdem sie kopfüber in das Kaninchenloch gefallen war. Das kann nur ein Traum sein. Doch Jacques Saunières letzte Botschaft hätte eindeutiger nicht sein können. Wieder ein Vierzeiler.
The Holy Grail 'neath ancient Roslin waits. The blade and chalice guarding o'er Her Gates. Adorned in masters' loving an, She lies. She rests at last beneath the starry skies.
(Unter Alt-Roslin der Gral verharrt. Winkel und Kelch das Grab bewahrt. Es ist von des Meisters Kunst geschmückt. Und unters Sternenzelt endlich gerückt.)
Langdon hatte erwartet, dass Saunières »Wegweiser« zum Gral eine Art Landkarte sein würde – vielleicht eine Kartenskizze mit einem Kreuz an der entsprechenden Stelle – aber auch das letzte Geheimnis der Prieuré war ihnen in der gleichen Form kundgetan worden, in der Saunière die ganze Zeit zu ihnen gesprochen hatte: als scheinbar harmloser Vers. Vier Zeilen, die zweifellos auf diesen konkreten Ort hindeuteten. Abgesehen von der Nennung des Ortsnamens, verwiesen die Verszeilen auf einige der berühmten architektonischen Merkmale der Kapelle.
Doch ungeachtet ihrer Klarheit hatte Saunières letzte Enthüllung bei Langdon kein Aha-Erlebnis, sondern gewisse Vorbehalte ausgelöst. Rosslyn Chapel war ihm als Lösung viel zu offensichtlich. Um dieses steinerne Bauwerk woben sich seit Jahrhunderten geflüsterte Legenden, die hier den Heiligen Gral verborgen wissen wollten. In jüngster Zeit war aus dem Flüstern ein lauter Ruf geworden, nachdem Untersuchungen mit gesteinsdurchdringendem Radar (GPR) Hinweise auf eine erstaunliche Besonderheit unter der Kapelle ergeben hatten, eine geräumige Kammer im Untergrund des Bauwerks. Nicht nur, dass die Ausmaße des Tiefengewölbes die der Kapelle in den Schatten stellten, es schien auch weder Ein- noch Ausgang zu haben. Archäologen stellten beim Rosslyn Trust, der zuständigen Verwaltungsstelle, den Antrag, einen Stollen durch das Deckgestein zur geheimnisvollen Kammer treiben zu dürfen. Der Trust hatte jedoch Ausgrabungen jeglicher Art auf dem heiligen Gelände ausdrücklich untersagt – was die Spekulationen natürlich erst recht anheizte. Was hatte der Rosslyn Trust zu verbergen?
Rosslyn war zum Wallfahrtsort für Geheimnissucher geworden. Manche behaupteten, das starke lokale Erdmagnetfeld habe sie angezogen, das unerklärlicherweise genau an dieser Stelle aus dem Untergrund drängt; andere kamen, um den Steilhang nach dem Zugang zur geheimnisvollen unterirdischen Kammer abzusuchen. Die meisten aber gaben freimütig zu, gekommen zu sein, um die mysteriöse Aura des Grals auf sich einwirken zu lassen.
Langdon war noch nie in Rosslyn gewesen, war aber jedes Mal erheitert, wenn es hieß, die Kapelle sei die derzeitige Heimat des Heiligen Grals. Zugegeben, vor sehr langer Zeit mochte es so gewesen sein, aber bestimmt nicht bis auf den heutigen Tag. Dafür war Rosslyn in den vergangenen Jahrzehnten viel zu sehr ins Rampenlicht geraten. Außerdem war es nur eine Frage der Zeit, bis doch jemand in die geheime Kammer eindringen würde.
Die Gralsforscher waren sich einig, dass Rosslyn nur ein Köder war, eine der vielen falschen Spuren, die die Prieuré de Sion so meisterhaft zu legen verstand. Heute Abend allerdings war Langdons vorgefasste Meinung doch ins Wanken geraten, nachdem der Schlussstein der Prieuré so eindeutig auf diesen Ort verwiesen hatte.
Eine verwirrende Frage hatte ihn den ganzen Tag schon beschäftigt: Warum hatte Saunière sich solche Mühe gemacht, Sophie und ihn an einen so offensichtlichen Ort zu führen? Es schien nur eine logische Antwort darauf zu geben.
Mit Rosslyn hat es irgendeine Bewandtnis, die wir noch nicht kennen.
»Robert?« Sophie war schon aus dem Wagen gestiegen und drehte sich nach ihm um. »Kommen Sie mit?« Sie hatte das Rosenholzkästchen in den Händen. Nachdem Capitaine Fache es ihr übergeben hatte, hatte Sophie wieder den Originalzustand mit den beiden ineinander steckenden Kryptexen hergestellt. Der Papyrus mit dem Vers war sicher in die Höhlung im Innern eingeschlossen – natürlich ohne die Essigphiole.
Der lange Kiesweg hinauf zur Kapelle führte Sophie und Langdon an seinem Ende an der berühmten Westfassade des Gebäudes vorbei. Unvorbereitete Besucher hielten diese merkwürdig vorspringende Mauer vielfach für einen unvollendeten Teil der Kapelle, doch wie Langdon sich erinnerte, war die Wahrheit noch weitaus spannender.
Die westliche Mauer des Tempels Salomons.
Die Nachfahren der Tempelritter hatten Rosslyn Chapel als genaues architektonisches Abbild von Salomons Tempel in Jerusalem entworfen – samt der Westmauer, dem engen rechteckigen Sakralraum und der unterirdischen Kammer mit dem Allerheiligsten, aus der die neun ursprünglichen Tempelritter ihren unermesslichen Schatz geborgen hatten. Langdon musste eingestehen, dass die Vorstellung, die Nachfahren der Templer hätten eine Gralsgruft mit Anklängen an den ursprünglichen Aufbewahrungsort des Heiligen Grals erbaut, eine gewisse Logik enthielt.