Выбрать главу

Sophie kannte das Gesicht nur zu gut.

Großvater.

Unter Sophies Füßen knarrte eine Diele. Die Frau drehte sich langsam um. Der Blick ihrer trauernden Augen erfasste Sophie. Sophie wollte davonlaufen, war aber wie gelähmt. Die Frau legte das Foto beiseite und kam langsam zur Tür, den Blick unverwandt auf Sophie gerichtet. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, während die beiden Frauen einander durch das feine Gewebe der Türgardinen ansahen. Dann, wie eine langsam anschwellende Meereswoge, wechselte das Mienenspiel der Frau von Unsicherheit und Unglaube zu Hoffnung, um jäh einen Ausdruck überwältigender Freude anzunehmen.

Sie stieß den unteren Türschlag auf, stürzte mit ausgestreckten Armen heraus und barg das Gesicht der entgeisterten Sophie in ihren weichen Händen. »Oh, mein liebes Kind … lass dich anschauen!«

Sophie kannte die Frau nicht und wusste dennoch genau, wer sie war. Sie versuchte, etwas zu sagen, bekam aber kaum Luft.

»Sophie!«, schluchzte die Frau und küsste sie auf die Stirn.

»Aber Grand-père hat doch gesagt, dass du … «, stieß Sophie mit erstickter Stimme hervor.

»Ich weiß.« Die Frau legte behutsam die Münde auf Sophies Schultern und betrachtete sie mit zärtlichen Blicken. »Dein Großvater und ich waren gezwungen, die Welt zu beschwindeln. Es hat mir unendlich Leid getan, aber es musste sein. Zu deiner Sicherheit, Prinzessin.«

Der Kosename beschwor vor Sophie das Bild des Großvaters herauf, der sie so viele Jahre lang Prinzessin genannt hatte. Seine Stimme schien im alten Gemäuer von Rosslyn widerzuhallen, bis hinunter in die Höhlungen des unbekannten Gewölbes.

Die alte Frau schlang die Arme um Sophie. Freudentränen strömten ihr übers Gesicht. »Dein Großvater hat verzweifelt versucht, dich in alles einzuweihen, aber euer Verhältnis ist ja leider so schwierig geworden. Ich muss dir sehr vieles erklären.« Sie küsste Sophie noch einmal auf die Stirn. »Aber jetzt Schluss mit den Geheimnissen, Prinzessin. Es ist an der Zeit, dass du die Wahrheit über deine Familie erfährst.«

Als der junge Fremdenführer den Rasen heruntergerannt kam, saßen Sophie und ihre Großmutter eng umschlungen auf der Verandatreppe. Die Tränen strömten.

In den Augen des jungen Mannes schimmerte ungläubige Hoffnung. »Sophie?«

Sophie nickte tränenblind und stand auf. Das Gesicht des jungen Burschen war ihr noch immer unvertraut, doch als sie einander in die Arme fielen, spürte sie die Macht des Blutes – des gemeinsamen Blutes, das in ihren Adern strömte, wie sie jetzt, wusste.

Als Robert Langdon sich zu ihnen gesellte, konnte Sophie nicht glauben, dass sie sich gestern noch allein auf der Welt gefühlt hatte, jetzt, an diesem fremden Ort und in der Gesellschaft von drei Menschen, die sie kaum kannte, fühlte sie sich endlich zu Hause.

105. KAPITEL

Dunkelheit hatte sich über Rosslyn gesenkt. Robert Langdon stand auf der Veranda des Bruchsteinhauses und freute sich über das fröhliche Lachen der Wiedersehensfreude, das hinter ihm aus der offenen Tür drang. Er hielt einen Becher mit starkem brasilianischen Kaffee in der Hand, der seine zunehmende Mattigkeit zwar ein wenig vertreiben konnte, doch er spürte, dass diese Belebung nur vorübergehend war. Er war erschöpft bis auf die Knochen.

»Sie sind uns heimlich entwischt«, sagte eine Stimme hinter ihm.

Er drehte sich um. Sophies Großmutter war nach draußen gekommen. Ihr Haar schimmerte silbern in der Nacht. Sie hieß Marie Chauvel – seit nunmehr achtundzwanzig Jahren.

Langdon lächelte sie müde an. »Ich wollte Sie bei Ihren Gesprächen über Familienangelegenheiten nicht stören.« Durch das Fenster konnte er Sophie sehen, die sich angeregt mit ihrem Bruder unterhielt.

Marie trat zu ihm. »Mr Langdon, ich habe mich entsetzlich um Sophie gesorgt, nachdem ich von dem Mord an Jacques erfahren hatte. Noch nie war ich so erleichtert wie heute Abend, als ich Sophie in der Tür stehen sah. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.«

Langdon war um eine Antwort verlegen. Er hatte angeboten, sich zurückzuziehen, damit Sophie und ihre Großmutter ungestört miteinander sprechen konnten, doch Marie hatte ihn gebeten, zu bleiben und zuzuhören. Mein Mann hat Ihnen offenkundig vertraut, Mr Langdon. Weshalb sollte ich es nicht tun?

Also war Langdon geblieben und hatte staunend zugehört, wie Mark die Geschichte von Sophies verstorbenen Eltern erzählte, die beide merowingischer Abstammung gewesen waren – und somit direkte Nachfahren von Maria Magdalena und Jesus Christus. Aus Gründen des Selbstschutzes hatten Sophies Eltern – wie schon deren Vorfahren – die ursprünglichen Familiennamen Plantard und Saint-Clair geändert. Als Abkömmlinge des Königsgeschlechts standen ihre Kinder unter dem besonderen Schutz der Prieuré de Sion. Als Sophies Eltern bei einem Verkehrsunfall mit ungeklärter Ursache ums Leben gekommen waren, fürchtete die Prieuré, die Identität des Königsgeschlechts könnte aufgedeckt sein.

»Als dein Großvater und ich den Anruf bekamen, dass man den Wagen deiner Eltern im Fluss gefunden hat«, erzählte Marie mit erstickter Stimme, »mussten wir uns rasch zu einer schweren Entscheidung durchringen.« Sie tupfte sich die Tränen ab. »in dieser Nacht sollten eigentlich wir alle sechs – also auch wir Großeltern und ihr zwei Kinder – in dem Auto sitzen. Zum Glück haben wir es uns im letzten Moment anders überlegt, und eure Eltern sind allein gefahren. Als uns die Nachricht von dem Unfall erreichte, hatten Jacques und ich keine Möglichkeit festzustellen, was wirklich geschehen war … ob es überhaupt ein Unfall gewesen ist.« Marie sah Sophie und ihren Bruder an. »Wir wussten nur, dass wir unsere Enkelkinder schützen mussten, und haben getan, was wir für geboten hielten. Jacques hat der Polizei mitgeteilt, dass dein Bruder und ich ebenfalls im Wagen gesessen hätten … unsere Leichen seien offenbar vom Fluss fortgeschwemmt worden. Dann hat die Prieuré dafür gesorgt, dass dein Bruder und ich untertauchen konnten. Jacques aber stand im Licht der Öffentlichkeit und konnte sich diesen Luxus nicht leisten. Da schien es nur logisch, dass Sophie als die Ältere in Paris blieb, um unter den Fittichen von Jacques und der Prieuré aufzuwachsen und zur Schule zu gehen.« Marie begann zu flüstern. »Die Familie auseinander zu reißen war das Schlimmste, was wir uns je abverlangen mussten. Jacques und ich konnten uns nur sehr selten sehen, und das auch nur in aller Heimlichkeit und unter dem Schutz der Prieuré. Es gibt bestimmte Zeremonien, von denen die Prieuré niemals lassen wird.«

Langdon hatte gespürt, dass die Geschichte tiefer gehen würde – in Dimensionen, die nicht für seine Ohren bestimmt waren –, und hatte sich nach draußen begeben. Während er jetzt zu den Fialen von Rosslyn Chapel hinaufsah, erfasste ihn tiefes Unbehagen über das ungelöste Geheimnis von Rosslyn.

Liegt der Gral wirklich hier in Rosslyn? Und wenn ja, wo sind der Winkel und der Kelch aus Saunières Gedicht?

»Darf ich Ihnen das abnehmen?«, sagte Marie.