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Nord und Süd.

Langdon blickte nach Süden. Sein Auge verlängerte die von den Medaillons gebildete Linie. Er setzte sich wieder in Bewegung und hielt im Gehen nach dem nächsten Medaillon Ausschau. Nachdem er die Ecke der Comédie Française links hatte liegen lassen, sah er wieder ein Medaillon zu seinen Füßen.

Ja!

Vor Jahren hatte Langdon erfahren, dass in Paris hundertfünfunddreißig dieser in Straßen, Trottoirs und Höfe eingebetteten Bronzemarkierungen eine exakte Nord-Süd-Achse quer durch die Stadt bilden. Langdon war diese Linie einmal abgeschritten, von Sacre-Cœur weit im Norden der Seine bis hinunter zum alten Observatorium von Paris, wo zu sehen war, was es mit dieser Linie auf sich hatte.

Der erste Nullmeridian der Welt.

Die alte Rosenlinie von Paris.

Als Langdon die Rue de Rivoli überquerte, wusste er sein Ziel zum Greifen nahe.

Unter Alt-Roslin der Gral verharrt.

Die Erkenntnis stürzte förmlich auf Langdon ein. Saunières altertümliche Schreibweise von Rosslyn … Roslin … der Winkel und der Kelch … der von des Meisters Kunst geschmückte Ort …

Wollte Saunière deshalb mit dir sprechen? Bist du über die Wahrheit gestolpert, ohne es zu wissen?

Langdon rannte los. Die Rosenlinie unter seinen Füßen leitete, zog ihn förmlich seinem Ziel entgegen. Als er die lange, unterirdische Passage Richelieu betrat, stellten sich ihm vor Anspannung die Nackenhaare auf. Am Ende dieses Tunnels stand das geheimnisvollste Monument von Paris, in den Achtzigerjahren von Francois Mitterand, der »Sphinx«, persönlich geplant und in Auftrag gegeben, von einem Mann, der sich Gerüchten zufolge in geheimen Zirkeln bewegt hatte und dessen Vermächtnis an Paris eine Örtlichkeit war, die Langdon erst wenige Tage zuvor aufgesucht hatte.

In einem anderen Leben.

Langdon stürmte aus der Passage auf den vertrauten Innenhof. Atemlos blieb er stehen. Ungläubig blieb sein Blick an jenem Bauwerk haften, das in der Dunkelheit halb links von ihm schimmerte.

Die Pyramide des Louvre.

Doch Langdons Bewunderung galt ihr nur für einen Moment. Sein eigentliches Interesse richtete sich auf das, was zu seiner Rechten lag. Er wandte sich ab, strebte wieder dem unsichtbaren Pfad der alten Rosenlinie zu. Sein Weg führte ihn aus dem Innenhof hinaus zum Carrousel du Louvre, der riesigen runden Rasenscheibe mit ihrem säuberlich gestutzten Heckenrand – der ehemaligen Feierstätte des der Natur gewidmeten Pariser Frühlingsfestes, dem Fruchtbarkeitsritual zu Ehren der Göttin.

Mit dem Gefühl, in eine andere Welt einzutreten, stieg Langdon über die Hecke und betrat die Rasenfläche dahinter. Der heilige Grund barg jetzt eines der ungewöhnlichsten Monumente der Stadt. Wie ein klaffender kristallener Abgrund ragte in seinem Zentrum die große, auf die Spitze gestellte gläserne Pyramide nach unten, die Langdon schon vor ein paar Tagen aus der Ferne gesehen hatte, als er Fache durch das unterirdische Foyer gefolgt war.

La Pyramide Inversée.

Zitternd, mit vibrierenden Nerven trat Langdon an die Kante der abschüssigen Fensterflächen und schaute hinab in den in bernsteinfarbenem Licht glühenden unterirdischen Eingangskomplex. Seine Aufmerksamkeit galt weniger der gewaltigen, auf den Kopf gestellten Pyramide, als dem, was sich unten unmittelbar unter ihrer Spitze befand. Dort, auf dem Boden des tief gelegenen Foyers, war eine bescheidene Struktur zu sehen … eine Struktur, die Langdon in seinem Manuskript erwähnt hatte.

Langdon spürte, wie ihn der Kitzel der unvorstellbaren Möglichkeiten bis in die letzte Faser seines Körpers ergriff. Er hob den Blick zum Louvre. Die riesigen Flügel des Museumsgebäudes umschlossen ihn, Flure über Flure, angefüllt mit den kostbarsten Meisterwerken der Welt.

Da Vinci … Botticelli …

Es ist von des Meisters Kunst geschmückt.

Vor Ehrfurcht schaudernd und zugleich von der Wissbegier des geborenen Forschers erfüllt, blickte Langdon wieder durch das Glas zu der schlichten Struktur hinunter.

Da unten musst du hin.

Er lief über die runde Rasenfläche zurück und hinüber zu der hoch aufragenden Eingangspyramide des Louvre. Die letzten Besucher des Tages tröpfelten heraus.

Langdon warf sich gegen die Drehtür und eilte die geschwungene Treppe hinunter auf die Sohle der großen Pyramide. Er spürte die Luft kühler werden. Unten angekommen, betrat er den langen Gang, der unter dem Innenhof des Louvre hinüber zur Pyramide Inversée führte.

Der Gang weitete sich an seinem Ende zu einem großen Raum. Unmittelbar vor Langdon ragte spiegelnd die auf der Spitze stehende Pyramide herab – eine atemberaubende, v-förmige Glasstruktur.

Der Kelch.

Langdons Blick glitt an den Kanten entlang nach unten bis zur knapp zwei Meter über dem Boden schwebenden Spitze. Genau darunter erhob sich die kleine Struktur.

Eine Miniaturpyramide, gerade einmal neunzig Zentimeter hoch. Die einzige kleinere Struktur im gesamten riesigen Komplex.

Langdon hatte in seinem Manuskript bei der Erörterung der umfangreichen, im Louvre zusammengetragenen Sammlungen von Fruchtbarkeitsgöttinnen und anderen weibliche Gottheiten auch eine Bemerkung über diese bescheidene Pyramide gemacht. »Die kleine Pyramide durchstößt den Boden wie die Spitze eines Eisbergs – wie der Schlussstein einer pyramidenförmigen geheimen Gruft, die sich darunter verbirgt.«

Die Spitzen der beiden Pyramiden wiesen in perfekter Ausrichtung aufeinander. In der sanften Beleuchtung des verlassenen Mezzanins schienen sie einander fast zu berühren.

Oben der Kelch. Unten der Winkel. Winkel und Kelch das Grab bewahrt.

Langdon hörte von ferne Marie Chauvels Worte. Eines Tages werden Ihnen die Augen aufgehen.

Von den Werken der Meister umgeben, die zudem die Werke des ermordeten Großmeisters waren, stand er unter der alten Rosenlinie. Konnte Saunière einen besseren Ort finden, um am Grab des Grals Wache zu halten? Langdon spürte, dass er endlich den Sinn von Saunières letztem Vierzeiler begriffen hatte. Er hob die Augen und schaute durchs Oberlicht. Ein grandioser Sternenhimmel spannte sich über das nächtliche Firmament.

unters Sternenzelt endlich gerückt!

Wie das Murmeln von Geistern aus der Dunkelheit vernahm Langdon das Echo längst verhallter Worte. Die Suche nach dem Heiligen Gral ist die Wallfahrt zu den Gebeinen Maria Magdalenas. Es ist die Sehnsucht, zu Füßen der Verleugneten auf die Knie zu sinken und zu beten.

Ehrfürchtig kniete Robert Langdon nieder.

Den Bruchteil einer Sekunde glaubte er eine weibliche Stimme zu hören … das Flüstern uralter Weisheit, das aus den Tiefen von Mutter Erde zu ihm drang.