Collet spürte, dass sein Capitaine unter einer untypischen Spannung stand. Fache, der gewöhnlich auch unter Stress souverän und kühl handelte, schien heute Nacht gefühlsmäßig stark engagiert zu sein – als würde es sich um eine persönliche Angelegenheit handeln.
Kaum verwunderlich, dachte Collet. Fache braucht dringend einen Erfolg. In jüngster Zeit waren Faches aggressive Ermittlungstaktiken, sein Kleinkrieg mit mächtigen ausländischen Botschaften und seine maßlosen Budgetüberschreitungen für die Beschaffung modernster Technologien ins Kreuzfeuer der Kritik von Seiten seines vorgesetzten Ministeriums und der Medien geraten. Wenn ihm heute Nacht eine auf Hochtechnologie gestützte spektakuläre Verhaftung eines Amerikaners gelang, dürften seinen Kritikern auf absehbare Zeit der Wind aus den Segeln genommen und Faches Job noch für die paar Jahre gesichert sein, bis er sich mit einer großzügig bemessenen Pension in den Ruhestand zurückziehen konnte.
Und die Pension wird er brauchen, dachte Collet. Faches Begeisterung für die neuen Technologien hatte ihm nicht nur beruflich geschadet, sondern auch privat. Es wurde gemunkelt, Fache hätte vor ein paar Jahren sein gesamtes Vermögen in den Neuen Markt investiert und alles bis auf das letzte Hemd verloren. Und Fache ist ein Mann, der nur teure Hemden trägt.
Aber heute Nacht war noch genug Zeit. Sophie Neveus ungelegener Auftritt war zwar störend gewesen, aber letztlich belanglos. Sie hatte sich inzwischen verzogen. Und Fache hatte immer noch einige Asse im Ärmel. Als Nächstes würde er Langdon damit konfrontieren, dass das Opfer seinen Namen auf den Boden geschrieben hatte: P.S. Robert Langdon suchen. Die Reaktion des Amerikaners auf dieses kleine Detail würde bestimmt sehr aufschlussreich werden.
»Capitaine«, rief ein Beamter von der anderen Seite des Raumes herüber, »ich glaube, Sie sollten dieses Gespräch annehmen.« Mit besorgter Miene hielt er einen Telefonhörer hoch.
»Wer ist dran?«, wollte Fache wissen.
»Der Chef unserer Dechiffrierabteilung.«
»Was ist denn los?«
»Es geht um Sophie Neveu. Da stimmt was nicht.«
15. KAPITEL
Die Zeit war gekommen. Silas stieg aus dem schwarzen Audi. Er fühlte sich stark. Seine weite Kutte flatterte leicht in der nächtlichen Brise. Der Sturm der Veränderung kündigt sich an. Die vor ihm liegende Aufgabe war nicht mit Gewalt zu bewältigen. Sie verlangte vor allem Fingerspitzengefühl. Silas ließ die dreizehnschüssige Heckler & Koch USP 40, die der Lehrer ihm besorgt hatte, im Wagen.
Eine todbringende Waffe gehört nicht in ein Gotteshaus.
Der Platz vor der Kirche war zu dieser Stunde fast menschenleer; nur ein trauriges Häuflein minderjähriger Nutten, die ein paar Nachtschwärmer durch fleißiges Vorzeigen ihrer Auslagen anzumachen versuchten, war zu sehen. Das Aufblitzen ihrer weißen Haut weckte in Silas' Lenden eine nur allzu bekannte Sehnsucht. Instinktiv spannte er den Oberschenkel an. Die Dornen des Bußgürtels gruben sich noch tiefer in sein sündiges Fleisch. Die Anwandlung der Lust war augenblicklich vorüber.
Seit zehn Jahren hatte sich Silas jegliche sexuelle Betätigung versagt, sogar die der einsamen Sünde. Der Weg verlangte es so. Er hatte es auf sich genommen, für die Gefolgschaft bei Opus Dei sehr viel zu opfern, doch er hatte noch viel, viel mehr dafür zurückbekommen. Überdies waren ihm das Keuschheitsgelübde und der Verzicht auf persönlichen Besitz kaum wie ein Opfer erschienen. Angesichts des Elends, aus dem er hervorgegangen war, und der sexuellen Scheußlichkeiten, die er im Gefängnis über sich ergehen lassen musste, empfand er Keuschheit und Armut beinahe als willkommen.
Zum ersten Mal seit seiner Verhaftung und Deportation nach Andorra war Silas nach Frankreich zurückgekehrt. Er hatte das Gefühl, von seinem Heimatland auf die Probe gestellt zu werden, indem es seine gerettete Seele mit den Erinnerungen an die gewaltsame Vergangenheit konfrontierte. Du wurdest wieder geboren, ermahnte er sich. Die heutigen Morde waren im Dienste Gottes begangene, notwendige Taten gewesen. Sie stellten ein Opfer dar, das Silas bis ans Ende seiner Tage still im Herzen bewahren musste.
Dein Glaube bemisst sich nach dem Schmerz, den du zu erdulden bereit bist, hatte der Lehrer zu ihm gesagt. Schmerz war für Silas etwas Vertrautes. Er hatte darauf gebrannt, sich vor dem Lehrer beweisen zu dürfen, vor dem Mann, der ihm versichert hatte, dass sein Handeln von einer höheren Macht gutgeheißen werde.
»Hago la obra de Dios (Ich vollbringe das Werk Gottes.)«, flüsterte Silas, während er auf das Kirchenportal zuschritt.
Im Schatten des gewaltigen Portalbogens hielt er inne und holte tief Luft. Erst in diesem Augenblick begriff er in vollem Umfang, was er jetzt tun würde.
Der Schlussstein. Er wird uns ans Ziel führen.
Er hob die gespenstisch weiße Faust und pochte dreimal an das Portal.
Kurz darauf wurde innen der Riegel des gewaltigen hölzernen Türflügels zurückgeschoben.
16. KAPITEL
Sophie war gespannt, wie lange Fache brauchen würde, bis ihm auffiel, dass sie das Gebäude gar nicht verlassen hatte. Und angesichts der völligen Ratlosigkeit Langdons fragte sie sich, ob es klug gewesen war, ihn in die Herrentoilette zu bestellen.
Aber was hättest du sonst tun sollen?
Sie rief sich die nackte Leiche ihres Großvaters vor Augen, die mit ausgebreiteten Gliedmaßen auf dem Boden lag. Es hatte eine Zeit gegeben, da er Sophie unendlich viel bedeutet hatte, doch zu ihrem Erstaunen musste sie erkennen, dass sie in der heutigen Nacht kaum Trauer über seinen Tod empfand. Jacques Saunière war ihr fremd geworden. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt gewesen, als ihre innige Beziehung in einer Märznacht in einem einzigen Augenblick in die Brüche gegangen war. Das war vor zehn Jahren. Als Sophie damals ein paar Tage früher als sonst von der Universität in England nach Hause gekommen war, hatte sie zufällig und unbeabsichtigt ihren Großvater bei etwas ertappt, das offensichtlich nicht für ihre Augen bestimmt war. Bis zum heutigen Tag kam ihr die Szene wie ein Trugbild vor.
Aber du hast es mit eigenen Augen gesehen.
Zu schockiert und peinlich berührt, um sich die gequälten Erklärungsversuche des Großvaters anzuhören, hatte Sophie sich damals sofort, auf eigene Füße gestellt und sich mit ihrem ersparten Geld gemeinsam mit ein paar anderen eine kleine Wohnung genommen. Sie hatte sich geschworen, nie mit jemand über den Vorfall zu sprechen. Ihr Großvater hatte verzweifelt versucht, Kontakt zu ihr aufzunehmen, hatte Briefe und Postkarten geschickt, in denen er Sophie anflehte, sich mit ihm zu treffen, damit er ihr alles erklären könne. Was gab es da zu erklären? Sophie antwortete ihm nur ein einziges Mal – um sich ausdrücklich jeden Anruf und jeden Versuch zu verbitten, Verbindung zu ihr aufzunehmen. Sie befürchtete, seine Erklärungsversuche könnten noch peinlicher ausfallen, als der Vorfall ohnehin schon gewesen war.
Unfassbarerweise hatte Saunière seine Bemühungen um Sophie nie aufgegeben, was ihr zu einem Berg ungeöffneter Briefe verholfen hatte, der sich in zehn Jahren angesammelt hatte und in einer Schublade vor sich hin schlummerte. Zur Ehrenrettung ihres Großvaters musste sie allerdings zugeben, dass er ihrem Wunsch stets nachgekommen war und nie versucht hatte, sie anzurufen.
Bis heute Nachmittag.
»Sophie?« Die Stimme auf ihrem Anrufbeantworter hatte verblüffend ältlich geklungen. »Ich habe deinen Wunsch stets respektiert … und ich rufe dich nur schweren Herzens an, aber ich muss unbedingt mit dir sprechen. Es ist etwas Schreckliches geschehen.«