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»Das ist ein Nautilus«, sagte die Biologiestudentin. »Ein Kopffüßer, der zur Regulierung des Auftriebs Gas in sein Gehäuse pumpen kann.«

»So ist es. Und können Sie erraten, in welchem Verhältnis die Durchmesser der einzelnen Spiralkammern seines Gehäuses zueinander stehen?«

Die Studentin betrachtete unsicher die Bogenschwünge des Kalkpanzers.

»Ganz richtig – Phi.« Langdon nickte. »Die Proportion des goldenen Schnitts. Eins Komma sechs eins acht zu eins.«

Die Studentin machte große Augen.

Langdon projizierte das nächste Bild auf die Leinwand, die Nahaufnahme einer reifen Sonnenblumendolde. »Sonnenblumenkerne wachsen in gegenläufigen Spiralen. Und nun raten Sie mal, in welchem Verhältnis die aufeinander folgenden Wachstumsspiralen zueinander stehen.«

»Phi?«, tönte es aus dem Auditorium.

»Volltreffer!« Langdon projizierte nun in rascher Folge ein Dia nach dem anderen: Tannenzapfen, Blattanordnungen an Pflanzenstängeln, Segmentierungen von Insektenleibern – und überall gab es die erstaunliche Übereinstimmung mit dem goldenen Schnitt.

»Das ist ja alles sehr interessant«, rief jemand im Auditorium, »aber was hat das mit Kunst zu tun?«

»Das will ich Ihnen sagen.« Langdon ließ ein anderes Dia erscheinen. Es zeigte ein blassgelbes Pergament mit Leonardo da Vincis berühmtestem männlichen Akt – der Proportionsstudie nach Vitruv, so benannt nach dem bedeutenden römischen Architekten Marcus Vitruvius, der in seiner Schrift de architectura den goldenen Schnitt gepriesen hatte.

»Niemand hat besser als Leonardo da Vinci die göttliche Struktur des menschlichen Körpers begriffen. Er hat sogar Leichen ausgegraben, um an den Körpern die Proportionen des Menschen zu studieren. Er hat als Erster gezeigt, dass der Körper des Menschen aus Elementen aufgebaut ist, deren Maßverhältnisse immer den Wert von Phi ergeben.«

Die Studenten blickten Langdon skeptisch an.

»Sie glauben mir nicht? Dann nehmen Sie das nächste Mal, wenn Sie sich unter die Dusche stellen, ein Zentimetermaß mit.«

Einige Zuhörer kicherten.

Langdon lächelte. »Nicht nur die Machos unter Ihnen. Nein, alle, Männlein und Weiblein. Messen Sie den Abstand von Ihrem Scheitel zum Fußboden und teilen Sie den Wert durch den Abstand vom Nabel zum Boden. Sie werden sich wundern, welche Zahl dabei herauskommt.«

»Phi?«, rief jemand.

»Gut geraten««, gab Langdon zurück. »Eins Komma sechs eins acht. Noch ein Beispiel gefällig? Nehmen Sie den Abstand von Ihrer Schulter zu den Fingerspitzen und teilen Sie ihn durch den Wert der Länge des Armes vom Ellbogen zu den Fingerspitzen: wieder Phi. Noch ein Beispiel gefällig? Hüfte zum Boden dividiert durch Knie zum Boden. Noch einmal Phi. Fingerglieder, Zehen, die Abschnitte des Rückgrats: Phi, Phi und Phi. Jede und jeder von Ihnen ist eine wandelnde Huldigung an den goldenen Schnitt.«

Sogar in dem abgedunkelten Raum war die allgemeine Verwunderung deutlich wahrzunehmen. Langdon spürte eine vertraute innere Wärme: Das war der Grund, weshalb er Lehrer geworden war. »Wie Sie sehen, hat das scheinbare Chaos der Erscheinungen der Welt eine tiefere Ordnung. Als die Alten auf die Zahl Phi gestoßen sind, glaubten sie, über den Baustein gestolpert zu sein, aus dem Gott die Welt zusammengesetzt hat, was sie in ihrer Verehrung der Natur bestärkte. Das kann man gut verstehen, nicht wahr? Gottes Hand ist in der Natur überall gegenwärtig. Bis zum heutigen Tag gibt es heidnische Kulte und Religionen, die Mutter Erde verehren. Viele Menschen feiern die Natur nicht anders als die vorchristlichen Heiden, und sie wissen es noch nicht einmal. Das Geheimnis der göttlichen Proportionen des goldenen Schnitts war der Schöpfung von Anfang an immanent. Der Mensch ist ein Spieler auf dem Spielfeld der Natur. In der Kunst versucht er, es dem Schöpfer gleichzutun. Sie können sich deshalb jetzt schon darauf einstellen, dass der goldene Schnitt uns im Laufe dieses Semesters noch oft begegnen wird.«

In der verbliebenen halben Stunde führte Langdon Dias mit Werken von Michelangelo, Albrecht Dürer, Leonardo da Vinci und vielen anderen alten Meistern vor, anhand deren er die bewusste und konsequente Anwendung des goldenen Schnitts auf die Komposition von Kunstwerken demonstrierte. Er zeigte das Prinzip des goldenen Schnitts in der Architektur der griechischen Tempel, der ägyptischen Pyramiden und sogar des Gebäudes der Vereinten Nationen in New York. Die Zahl Phi erschien in den kompositorischen Strukturen von Mozartsonaten, Beethovens Fünfter Symphonie und Werken Bartóks, Debussys und Schuberts. Sogar Stradivari berücksichtigte beim Bau seiner berühmten Violinen diese Zahl, um die optimale Lage der F-Löcher zu bestimmen.

Langdon trat wieder an die Tafel. »Zum Schluss möchte ich wieder auf die Symbole zurückkommen«, sagte er und zeichnete aus fünf einander überschneidenden Linien einen fünfzackigen Stern. »Das ist eines der gewichtigsten Symbole, mit dem Sie in diesem Semester Bekanntschaft machen werden. Es wird als Pentagramm bezeichnet – die Alten nannten es auch das Penrakel oder den Drudenfuß – und gilt in vielen Kulturen als Symbol des Göttlichen und des Magischen. Kann mir jemand verraten, warum?«

Stettner, der Mathematik-Diplomand, hob die Hand. »Weil die Linien sich auf eine Weise schneiden, dass die von ihnen gebildeten Abschnitte im Verhältnis des goldenen Schnitts zueinander stehen.«

Langdon nickte dem jungen Mann anerkennend zu. »Sehr gut. Jawohl, sämtliche Längen Verhältnisse eines fünfzackigen Sterns entsprechen der Zahl Phi und machen dieses Symbol damit zum idealen Ausdruck der göttlichen Proportionen des goldenen Schnitts. Aus diesem Grund war der fünfzackige Stern stets das Symbol für die Schönheit und Vollkommenheit der Muttergottheit und die Heiligkeit des Weiblichen.«

Der weibliche Teil des Auditoriums strahlte.

»Noch eins, Leute. Wir haben Leonardo da Vinci heute nur kurz angesprochen, aber wir werden uns im Laufe dieses Semesters noch eingehender mit ihm beschäftigen. Seine Verehrung für die alten weiblichen Gottheiten ist bestens dokumentiert. Morgen werde ich Ihnen sein Fresko Das letzte Abendmahl vorführen, das eine der erstaunlichsten Huldigungen an das Weibliche darstellt, die wir kennen.«

»Im Ernst?«, fragte jemand. »Ich dachte immer, im Mittelpunkt von Leonardos Letztem Abendmahl steht Jesus.«

Langdon zwinkerte dem Fragesteller zu. »In diesem Gemälde sind Symbole an Stellen versteckt, auf die Sie im Traum nicht kommen würden … «

»Was ist mit Ihnen?«, flüsterte Sophie. »Wir sind gleich da. Los!«

Langdon schien aus weiter gedanklicher Ferne aufzutauchen. Von einer plötzlichen Eingebung erfasst, stand er wie gelähmt auf der Treppe.

Sophie schaute sich nach ihm um.

O, Draconian devil, oh, lame saint!

Ist die Lösung so einfach?, fragte sich Langdon.

Doch es konnte gar nicht anders sein.

Während ihm die Zahl Phi und die Gemälde da Vincis durch den Kopf wirbelten, hatte Robert Langdon unvermutet mit einem Schlag Jacques Saunières Code entziffert.

»O, Draconian devil«, sagte er, »oh, lame saint … einfacher kann der Code gar nicht sein!«

Sophie hielt auf dem Treppenabsatz unter Langdon inne und schaute verwirrt zu ihm hinauf. Ein Code? Sie hatte die ganze Nacht schon über diese zwei Zeilen nachgedacht, aber nirgendwo einen Code erkennen können, schon gar nicht einen einfachen.

»Sie haben es doch selbst gesagt.« Langdons Stimme bebte vor Aufregung. »Die Zahlen der Fibonacci-Reihe ergeben nur in der richtigen Reihenfolge einen Sinn, sonst sind sie mathematischer Nonsens.«

Sophie begriff nicht, worauf er hinauswollte. Die Fibonacci-Zahlen? Sie war überzeugt, dass ihr einziger Sinn darin bestanden hatte, die Dechiffrierabteilung und damit sie selbst auf den Plan zu rufen. Sie haben auch noch einen anderen Sinn? Sie schob die Hand in die Tasche und zog das Blatt mit dem Ausdruck der Nachricht ihres Großvaters hervor.