Jetzt war er tot und sprach aus dem Jenseits zu ihr.
Die Mona Lisa.
Sophie ließ die hohen Türflügel aufschwingen. Einen Moment blieb sie auf der Schwelle stehen und verschaffte sich einen Überblick über die Weite des dahinter liegenden rechteckigen Saales. Auch er war in weiches rotes Licht getaucht. Der Salle des États war einer der wenigen Räume des Museums ohne Durchgang – eine Sackgasse und gleichseitig der einzige Raum, der von der Mitte der Grande Galerie abzweigte. Gegenüber der Flügeltür, dem einzigen Zugang zu diesem Saal, hing ein viereinhalb Meter breites, alles beherrschendes Gemälde von Sandro Botticelli. Auf der riesigen achteckigen Polsterbank in der Mitte des Saals pflegten Tausende ermüdeter Besucher die willkommene Gelegenheit zu nutzen, bei der Betrachtung des berühmtesten Kunstwerks im Louvre ein wenig die Beine auszustrecken.
Sophie bemerkte, dass ihr etwas fehlte. Ein UV-Strahler. Sie schaute den Gang hinunter, wo ihr Großvater im Scheinwerferlicht lag, von allerlei elektronischen Gerätschaften umgeben. Wenn er irgendwo hier im Salle des États etwas aufgeschrieben hatte, dann bestimmt mit dem Spezial-Marker.
Sophie holte tief Luft und lief zu dem gut ausgeleuchteten Tatort. Sie brachte es nicht über sich, die Leiche ihres Großvaters anzusehen, und konzentrierte sich ausschließlich auf das Tischchen mit den Geräten zur Spurensicherung, wo sie einen UV-Strahler von der Größe eines dicken Füllfederhalters entdeckte. Mit dem Leucht-Pen in der Tasche eilte sie den Gang zurück zu den offen stehenden Türen des Salle des États.
Sie wollte gerade über die Schwelle treten, als sie eilige Schritte hörte, die rasch näher kamen. Eine geisterhafte Gestalt tauchte aus dem rötlichen Zwielicht auf. Sophie wich entsetzt zurück.
»Da sind Sie ja«, sagte Langdon flüsternd in die Stille und blieb vor ihr stehen.
Sophies Erleichterung währte nur kurz. »Robert, Sie müssen schleunigst von hier verschwinden! Wenn Fache … «
»Wo waren Sie denn?«
»Ich habe mir einen UV-Strahler besorgt«, flüsterte sie und hielt den Leucht-Pen hoch. »Wenn mein Großvater eine Botschaft für mich … «
»Sophie, hören Sie zu«, fiel Langdon ihr ins Wort. Der Blick seiner blauen Augen hielt sie fest, während er allmählich wieder zu Atem kam. »Die Buchstaben P.S. – sagen sie Ihnen irgendetwas?«
Aus Furcht, ihre Stimmen könnten den ganzen Gang hinunter zu hören sein, schob Sophie Robert in den Salle des États und schloss leise die riesige Flügeltür. »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass das meine Initialen für ›Prinzessin Sophie‹ sind.«
»Ich weiß, aber haben Sie die Buchstaben schon mal woanders gesehen? Hat Ihr Großvater sie jemals in einem, anderen Zusammenhang benutzt, nicht nur als Initialen für Sie? Als Monogramm vielleicht oder zur Zeichnung von Briefen oder persönlichen Gegenständen?«
Sophie war verblüfft. Woher konnte Robert das wissen? Sophie hatte die Initialen P.S. in der Tat schon einmal gesehen, als eine Art Monogramm. Es war am Tag vor ihrem neunten Geburtstag gewesen. Damals hatte sie heimlich im Haus herumgestöbert und ihr Geburtstagsgeschenk gesucht. Schon damals konnte sie Geheimniskrämerei nicht ertragen. Was hat Grand-père dieses Jahr für dich? Sie hatte Schränke und Schubladen durchwühlt. Hat er mir die Puppe gekauft, die ich so gern haben mochte? Wo kann er sie versteckt haben?
Nachdem Sophie im ganzen Haus nichts gefunden hatte, nahm sie all ihren Mut zusammen und stahl sich in Großvaters Schlafzimmer. Das Zimmer war für sie absolut tabu, aber der Großvater lag unten auf der Couch und hielt ein Nickerchen.
Und du willst dich ja nur mal schnell umsehen!
Auf Zehenspitzen schlich sie über den knarrenden Dielenboden zu seinem Kleiderschrank und schaute nach, ob hinter den Kleidungsstücken irgendetwas in den Fächern lag. Nichts. Sie schaute unter sein Bett. Wieder nichts. Dann nahm sie sich den Schreibtisch vor, Fach für Fach. Hier muss doch etwas für dich versteckt sein! Bei der vorletzten Schublade hatte sie noch immer nichts entdeckt, das nach einer Puppe aussah. Enttäuscht zog sie die letzte Lade auf. Schwarze Kleidungsstücke lagen darin, die sie noch nie an ihrem Großvater gesehen hatte. Sie wollte die Schublade schon wieder zuschieben, als hinten im Fach etwas glänzte. Es sah ein bisschen wie eine Uhrkette aus, aber Großvater trug so etwas doch nicht. Ihr Herz tat einen Sprung, als ihr klar wurde, was es war.
Ein Halsband!
Vorsichtig zog sie die Kette heraus. Zu ihrer Überraschung hing ein glänzender goldener Schlüssel daran. Schwer und sorgfältig poliert. Fasziniert hielt sie ihn hoch. Einen Schlüssel wie diesen hatte sie noch nie gesehen. Meistens waren Schlüssel flach und hatten einen zackigen Bart, aber dieser hier hatte einen dreieckigen Schaft mit vielen kleinen Vertiefungen. Der Griff war ein großes goldenes Kreuz, aber kein normales Kreuz, sondern eines mit gleich langen Balken, wie ein Pluszeichen. In die Mitte des Kreuzes war ein merkwürdiges Symbol graviert – zwei ineinander verschlungene Buchstaben in einem Rankenmuster.
Sie zog die Stirn kraus, als sie die Buchstaben las. »P.S.«, flüsterte sie. Was hat das zu bedeuten?
»Sophie?«, erklang die Stimme ihres Großvaters von der Tür.
Erschrocken fuhr sie herum. Der Schlüssel rutschte ihr aus der Hand und fiel klimpernd zu Boden. Betroffen starrte Sophie darauf, um nicht dem Großvater in die Augen sehen zu müssen. »Ich … ich habe mein Geburtstagsgeschenk gesucht«, sagte sie kläglich und ließ schuldbewusst den Kopf hangen.
Der Großvater schien eine Ewigkeit wortlos in der Tür zu stehen. Endlich seufzte er bekümmert. »Heb den Schlüssel auf, Kind.«
Sophie tat wie geheißen.
Großvater trat ins Zimmer. »Sophie, du musst lernen, die Privatsphäre anderer Leute zu respektieren.« Er kniete sich vertrauensvoll zu ihr und nahm den Schlüssel an sich. »Das ist ein ganz besonderer Schlüssel. Du hättest ihn verlieren können … «
Der ruhige Tonfall ihres Großvaters machte Sophies schlechtes Gewissen nur noch quälender. »Es tut mir Leid, Grand-père, ich schäme mich so sehr.« Sie hielt inne. »Ich dachte, es wäre eine Halskette für mich zum Geburtstag.«
Der Großvater sah sie ein paar Sekunden an. »Sophie, ich sage es dir noch einmal, denn es ist sehr wichtig. Du musst dir mehr Respekt vor der Privatsphäre anderer Menschen angewöhnen.«
»Ja, Grand-père.«
»Wir werden uns ein andermal darüber unterhalten. Im Moment ist es wichtiger, dass du in unserem Garten das Unkraut jätest.«
Sophie lief hinaus, um ihren Gärtnerinnenpflichten nachzukommen.
Am nächsten Morgen bekam Sophie kein Geburtstagsgeschenk. Sie hatte auch keines erwartet, aber der Großvater hatte ihr den ganzen Tag lang nicht einmal gratuliert. Betrübt war sie an diesem Abend die Treppe hinaufgegangen, hatte ihr Schlafzimmer betreten … und da, auf dem Kopfkissen lag etwas! Eine Karte mit einem Rätsel darauf. Sie hatte das Rätsel noch nicht gelöst, da lächelte sie schon. Ich weiß, was das ist! Der Großvater hatte so etwas in den vergangenen Weihnachtstagen schon einmal gemacht. Das ist eine Schatzsuche.
Mir glühenden Wangen brütete Sophie über dem Rätsel, bis sie es gelöst hatte. Die Lösung verwies auf einen anderen Ort im Haus, wo die nächste Karte mit einem Rätsel auf sie wartete. Nachdem sie auch das gelöst hatte, ging es weiter zur nächsten Station. Sie eilte von einem Hinweis zum anderen durchs ganze Haus, bis sie zuletzt wieder in ihr eigenes Zimmer dirigiert wurde. Sie flitzte die Treppe hinauf, stürmte in ihr Zimmer und blieb wie angewurzelt stehen. Mitten im Zimmer stand ein chromblitzendes rotes Fahrrad mit einer Schleife am Lenker. Sophie hatte vor Entzücken lauthals gejubelt.