Zitternd wählte sie die erste Nummer.
Unten im Kirchenschiff legte Silas den flachen Stein auf den Altar und griff nach der ledergebundenen Bibel. Während er fieberhaft die Seiten des Alten Testaments umschlug, schwitzten seine riesigen weißen Hände. Schnell hatte er das Buch Hiob gefunden und suchte Kapitel achtunddreißig. Mit dem Finger fuhr er die Textspalte hinunter. Er wusste bereits, was ihn in Vers elf erwartete.
Er wird dich zum endgültigen Versteck leiten.
Ah! Da war die Stelle. Es waren nur acht Wörter. Silas las … und las die Textstelle voller Bestürzung gleich noch einmal.
Es muss irgendein entsetzlicher Fehler passiert sein!
Der Vers lautete:
BIS HIERHER SOLLST DU KOMMEN, UND NICHT WEITER.
30. KAPITEL
Der Wachbeamte Claude Grouard stand vor der Mona Lisa über seinem bäuchlings auf dem Boden liegenden Gefangenen. Er kochte vor Wut. Dieser Dreckskerl hat Jacques Saunière umgebracht! Saunière war wie ein Vater zu Grouard und seiner Wachmannschaft gewesen.
Am liebsten hätte Grouard einfach abgedrückt und Robert Langdon eine Kugel in den Rücken gejagt. Als Chef des Wachdienstes gehörte Grouard zu den wenigen Wachbeamten, die eine Waffe trugen. Er sagte sich allerdings, dass es für Langdon ein geradezu gnädiges Schicksal gewesen wäre, erschossen zu werden, wenn man bedachte, was ihm noch bevorstand.
Grouard zerrte sein Sprechfunkgerät aus dem Gürtel, um Verstärkung herbeizurufen, doch aus dem Hörer drang nur ein Knistern und Rauschen. Grouard fluchte. Die in diesem Saal installierte zusätzliche Sicherheitselektronik setzte das Kommunikationssystem des Wachdienstes immer wieder außer Gefecht. Du musst zur Tür. Die Waffe auf Langdon gerichtet, setzte Grouard sich rückwärts in Bewegung. Nach dem dritten Schritt erspähte er etwas. Abrupt blieb er stehen.
Verflucht, was war das?
In der Mitte des Saales nahm eine seltsame, silhouettenhafte Erscheinung Gestalt an. War noch jemand hier? Im Zwielicht sah Grouard eine Frau, die sich rasch zum hinteren Bereich der linken Wand bewegte. Vor ihr huschte ein geisterhafter, violetter Lichtschein auf dem Fußhoden hin und her.
»Qui est là?«, rief Grouard der Gestalt zu, während ihm zum zweiten Mal innerhalb von dreißig Sekunden das Adrenalin bis in die Haarspitzen schoss. Plötzlich wusste er nicht mehr, wohin er die Waffe richten und in welche Richtung er sich bewegen sollte.
»Spurensicherung«, antwortete die Frau gelassen und untersuchte weiter den Boden mit ihrem seltsamen Licht.
Spurensicherung? Grouard geriet ins Schwitzen. Sind die Leute von der Spurensicherung nicht schon längst fort?
Jetzt erkannte Grouard den UV-Strahler in der Hand der Frau, den die Ermittler benutzten, doch er konnte sich keinen Reim darauf machen, wozu jemand hier nach Spuren suchen sollte.
»Wie heißen Sie?«, rief Grouard. Sein Instinkt sagte ihm, dass hier etwas faul war. »Répondez!«
»C'est moi«, antwortete die Frau beruhigend. »Ich bin's, Sophie Neveu.«
Irgendwo in einer verborgenen Gehirnwindung regte sich bei Grouard die Erinnerung. Sophie Neveu? War das nicht der Name von Saunières Enkelin? Sie war als Kind oft hierher gekommen, aber das war schon Jahre her. Und selbst wenn diese Frau tatsächlich Sophie Neveu sein sollte, war das noch lange kein Grund, ihr zu trauen. Grouard hatte von dem Zerwürfnis zwischen Saunière und seiner Enkelin gehört.
»Sie kennen mich doch«, rief die Frau. »Übrigens, Robert Langdon hat meinen Großvater nicht umgebracht, glauben Sie mir.«
Wachmann Grouard war kein Dummkopf, der Sophie nur wegen ihrer hübschen Augen geglaubt hätte. Ich muss Verstärkung rufen. Doch wieder war aus dem Sprechfunkgerät nur Rauschen zu hören. Bis zum Eingang hinter Grouard waren es fast zwanzig Meter. Der Wachmann bewegte sich langsam darauf zu, die Waffe immer noch auf den Mann am Boden gerichtet. Im Rückwärtsgehen sah er, dass die Frau in der Mitte des Saales den UV-Strahler hob und ein großes Gemälde ableuchtete, das genau gegenüber der Mona Lisa an der anderen Längswand des Saales hing.
Grouard schnappte nach Luft, als er sah, um welches Bild es sich handelte.
Was treibt sie da, um Gottes willen?
Sophie Neveu spürte, wie ihr der kalte Schweiß auf die Stirn trat. Langdon lag noch immer auf dem Boden, alle viere von sich gestreckt. Durchhalten, Robert! Gleich ist es geschafft! Sophie wusste, dass der Wächter niemals so weit gehen würde, auf einen von ihnen zu schießen. Ruhig leuchtete sie die Umgebung eines bestimmten Meisterwerks sorgfältig ab – ebenfalls ein da Vinci. Doch ihr UV-Strahler förderte nichts Ungewöhnliches zu Tage, nichts auf dem Boden, nichts an der Wand und auch nichts auf dem Gemälde selbst. Aber da muss etwas sein!
Sophie war ganz sicher, die Anweisung ihres Großvaters korrekt entziffert zu haben.
Was konnte er anderes gemeint haben?
Das Meisterwerk, das Sophie ableuchtete, war auf eine gut zwei Meter hohe Leinwand gemalt. In der bizarren Szenerie, die Leonardo da Vinci dargestellt hatte, saß die Jungfrau Maria mit dem Jesuskind, Johannes dem Täufer und dem Erzengel Uriel im Vordergrund einer wilden Felslandschaft. Als Sophie noch ein kleines Mädchen war, hatte der Großvater sie nach jedem Besuch der Mona Lisa zu diesem Gemälde auf der gegenüberliegenden Seite des Saales geführt.
Grand-père, ich kann nichts finden!
Sophie hörte hinter sich den Wächter erneut nach Verstärkung rufen. Denk nach!
Sie rief sich die Botschaft vor Augen, die auf das Schutzglas der Mona Lisa geschrieben war. Das Bild, vor dem sie jetzt stand, hatte kein Schutzglas, und ihr Großvater hätte ein solch atemberaubendes Meisterwerk niemals durch eine Aufschrift verunstaltet. Sophie überlegte. Jedenfalls nicht die Vorderseite. Ihr Blick glitt nach oben zu den langen dünnen Stahlseilen, an denen das Gemälde von der Decke hing.
War das die Lösung? Sie packte den geschnitzten Rahmen und zog ihn zu sich heran. Während das große Gemälde an den langen Drähten nach vorne schwang, beulte die Leinwand sich leicht nach hinten ein. Sophie schlüpfte mit Kopf und Schultern hinter das Bild und leuchtete dessen Rückseite ab.
Ihre Ahnung hatte sie diesmal getäuscht. Die blasse Rückseite des Gemäldes war völlig leer. Nirgends eine Aufschrift, nur ein paar bräunliche Verfärbungen der Leinwand, die vermutlich vom Alter herrührten und …
Halt!
Sophies Blick blieb an etwas Glänzendem hängen, das aus der Unterkante des Rahmens hervorlugte, etwas Länglichem in der Fuge zwischen Rahmen und Leinwand. Eine glänzende goldene Kette.
Sophie zog daran. Zu ihrem maßlosen Erstaunen löste sich aus der Tiefe der Fuge ein vertrauter Gegenstand, ein goldener Schlüssel. Der breite Kopf besaß die Form eines Kreuzes und trug ein eingraviertes Wappen, das Sophie seit ihrem neunten Geburtstag nicht mehr gesehen hatte – eine Lilie mit den Buchstaben P.S. Sophie hörte den Geist ihres Großvaters in ihr Ohr flüstern: Wenn die Zeit gekommen ist, gehört der Schlüssel dir. Sophie wurde es eng ums Herz. Ihr Großvater hatte sein Versprechen noch im Tod gehalten. Das ist der Schlüssel für eine Kiste, in der ich geheime Sachen hüte, sagte seine Stimme.
Schlagartig wurde Sophie klar, dass die Wortspiele dieser Nacht einzig und allein darauf angelegt waren, dass sie diesen Schlüssel entdeckte, den ihr Großvater bei sich getragen haben musste, als er getötet worden war. Da er offenbar nicht wollte, dass der Schlüssel in die Hände der Polizei geriet, hatte er ihn hinter der Felsgrottenmadonna versteckt und sich ein raffiniertes Verwirrspiel ausgedacht, damit, einzig und allein Sophie den Schlüssel finden konnte.