»Au secours!« Der Wachmann hatte wieder um Hilfe gerufen.
Sophie steckte den Schlüssel aus der Fuge hinter dem Gemälde zusammen mit dem UV-Strahler in die Tasche. Als sie hinter der Leinwand hervorlugte, sah sie, dass der Hilferuf des Wachmanns trotz seiner verzweifelten Bemühungen am Sprechfunkgerät immer noch ungehört geblieben war. Die Waffe auf Langdon gerichtet, bewegte er sich rückwärts auf den Eingang zu.
»Au secours! Ich brauche Hilfe!«, rief er wieder in sein Gerät.
Immer noch Rauschen.
Sophie begriff. Er bekommt keine Verbindung. Sie erinnerte sich an die handybewehrten Touristen, die hier vergeblich zu den lieben Verwandten durchzukommen versuchten, um die Frage loszuwerden: »Rate mal, wo ich gerade stehe?« Die Sicherheitsverdrahtung in den Wänden machte den Salle des États für alles, was per Funk funktionierte, zum schwarzen Loch. Der Wächter war allerdings schon beunruhigend nahe am Ausgang. Sophie musste schnell handeln.
Vom Gemälde nur noch teilweise verdeckt, blickte sie nach oben. Zum zweiten Mal in dieser Nacht würde Leonardo da Vinci ihr Nothelfer sein.
Nur noch ein paar Meter, beruhigte sich Grouard, die Waffe auf Langdon gerichtet.
»Stehenbleiben, oder ich mache Ernst!«, hörte er plötzlich die Frau aus dem Saal herüberrufen.
Grouard schaute zu ihr hinüber und erstarrte. »Mon dieu!«
Im rötlichen Halbdunkel erkannte er, dass die Frau die Felsgrottenmadonna aus den Ösen der Aufhängung gehoben und vor sich auf den Boden gestellt hatte. Sie verschwand beinahe hinter dem hohen Kunstwerk. Grouard wollte sich schon wundern, weshalb das Abnehmen des Gemäldes den Alarm nicht ausgelöst hatte, aber dazu hätte die Alarmanlage ja zuerst wieder scharf gemacht werden müssen.
Was tut sie da, um Gottes willen …?
Das Blut stockte ihm in den Adern, als er begriff, was die Frau vorhatte.
Die Leinwand bekam in der Mitte eine Beule. Die feinen Züge der Jungfrau Maria, des Jesuskinds und Johannes des Täufers verzerrten sich.
»Non!«, schrie Grouard schreckensstarr, während das unschätzbare Gemälde Leonardos sich verformte. Die Frau stemmte tatsächlich das Knie von hinten gegen die Leinwand! »NON!«
Grouard schwenkte die Waffe und zielte auf die Frau, doch im selben Moment wurde ihm das Lächerliche seiner Drohung bewusst. Selbst wenn die Frau getroffen wurde, konnte sie dem Gemälde noch unermessliche Schäden zufügen – wie auch die Kugeln aus Grouards Pistole.
»Legen Sie sofort die Waffe und das Sprechfunkgerät weg«, befahl die Frau ruhig und bestimmt. »Sonst drücke ich mit dem Knie das Gemälde ein. Ich glaube, Sie wissen, was mein Großvater davon gehalten hätte.«
Unter Grouard schien der Boden zu schwanken. »Bitte … tun Sie es nicht«, stieß er hervor. »Das ist da Vincis Felsgrottenmadonna … « Er legte Pistole und Sprechfunkgerät auf den Boden und hob resigniert die Hände über den Kopf.
»Gut«, sagte die Frau. »Tun Sie genau, was ich Ihnen sage. Dann werden wir prächtig miteinander auskommen.«
Langdons Herz klopfte immer noch wild, als er wenige Augenblicke später neben Sophie die Feuertreppe zum Erdgeschoss hinunterrannte. Seit sie den zitternden Wachbeamten auf dem Boden liegend im Salle des États zurückgelassen hatten, hatten sie noch kein Wort gewechselt. Langdons Hand krampfte sich um die Pistole des Wachmanns. Die Waffe fühlte sich fremd, schwer und bedrohlich an. Er wollte sie so schnell wie möglich wieder loswerden.
Während Langdon die Stufen hinuntereilte, fragte er sich, ob Sophie überhaupt wusste, welchen Wert das Gemälde besaß, das sie beinahe zerstört hatte. Sie hatte in diesem nächtlichen Abenteuer bislang einen bestürzend adäquaten Kunstgeschmack bewiesen. Wie die Mona Lisa war auch der andere da Vinci, die Felsgrottenmadonna, unter Kunstgeschichtlern als Fundgrube für verborgene heidnische Symbolik bekannt.
»Sie haben sich da ein wertvolles Faustpfand ausgesucht«, rief er Sophie im Laufen zu.
»Die Felsgrottenmadonna?«, gab sie zurück. »Die habe nicht ich mir ausgesucht, sondern mein Großvater. Er hat hinter dem Gemälde eine Kleinigkeit für mich deponiert.«
Langdon warf ihr einen erstaunten Blick zu. »Wie bitte?« Wie konnte Sophie wissen, hinter welchem Gemälde sie zu suchen hatte? Warum hinter der Felsgrottenmadonna.
»Die Botschaften meines Großvaters waren alle in Englisch verfasst. Und wie ich von ihm weiß, heißt dieses Gemälde auf Englisch Madonna on the Rocks. Seine letzte Botschaft lautete So dark the con of man.« Sophie warf Langdon einen triumphierenden Blick zu. »Seine beiden ersten Anagramme habe ich nicht begriffen. Robert, aber beim dritten hat's gefunkt!«
31. KAPITEL
»Sie … sind alle tot!«, stammelte Schwester Sandrine am Telefon ihres Domizils in der Kirche Saint-Sulpice. Ein Anrufbeantworter hatte sich gemeldet. »Bitte, nehmen Sie ab, sie sind alle tot!«
Das Ergebnis der Anrufe bei den ersten drei Telefonnummern auf ihrer Liste war bestürzend gewesen – eine hysterische Witwe, ein Kriminalbeamter, der am Tatort eines Mordes Überstunden machte, und ein ernster Priester, der eine trauernde Familie zu trösten versuchte, hatten sich gemeldet: Alle drei Kontaktpersonen waren tot. Und jetzt, bei der vierten und letzten Nummer – die sie erst anrufen sollte, wenn die drei anderen Kontaktpersonen nicht zu erreichen waren –, meldete sich nur ein Anrufbeantworter. Der Ansagetext nannte keinen Teilnehmer und forderte lediglich dazu auf, eine Nachricht zu hinterlassen.
»Die Bodenplatte wurde aufgebrochen«, flüsterte Schwester Sandrine eindringlich in die Sprechmuschel, »und die drei anderen, die ich notfalls anrufen sollte, sind tot!«
Schwester Sandrine wusste nicht, wer die Männer waren, für die sie hier aufpasste. Die unter ihrem Bett verwahrten Telefonnummern anzurufen war ihr nur in einem einzigen Fall erlaubt. Sollte diese Bodenplatte jemals aufgebrochen werden, hatte ein gesichtsloser Bote einmal zu ihr gesagt, ist der Feind in die Führungsebene eingedrungen, und einer der Unseren war unter Todesandrohung zu einer verzweifelten Lüge gezwungen. Dann müssen Sie diese Nummern anrufen und die anderen warnen. Sorgen Sie dafür, dass Sie bei einer der Nummern durchkommen – unter allen Umständen!
Es war ein geräuschloses und in seiner Einfachheit faszinierendes Warnsystem. Schwester Sandrine fand es von Anfang an bestechend. Sobald die Identität eines Bruders aufflog, würde er mit einer falschen Auskunft das System in Bewegung setzen, das die anderen warnte. Doch heute Nacht schien bei allen vieren die Tarnung aufgeflogen zu sein.
»Bitte, bitte, nehmen Sie ab … «, flüsterte Schwester Sandrine drängend und voller Angst.
»Legen Sie den Hörer auf«, sagte eine schroffe, tiefe Stimme an der Tür.
Schwester Sandrine fuhr herum. Im Türrahmen stand der riesige Mönch. Er hielt einen eisernen Leuchter in den Händen. Zitternd legte Sandrine den Hörer auf die Gabel des alten Apparats.
»Sie sind tot«, sagte der Mönch. »Alle vier. Sie haben versucht, mich zum Narren zu halten. Jetzt werden Sie mir sagen, wo der Schlussstein ist.«
»Ich weiß es nicht«, sagte Schwester Sandrine wahrheitsgemäß. »Das ist ein Geheimnis, über das andere wachen.« Und die nun tot sind.
Der Mann trat näher. Seine weißen Fäuste krampften sich um den Kerzenleuchter. »Als katholische Ordensschwester helfen Sie denen?«