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Sophie hatte keinen Schimmer, wozu Schlüssel dieser Art verwendet wurden, aber sie hatte das Gefühl, Robert könnte ihr auf die Sprünge helfen. Schließlich hatte er auch das eingravierte Emblem beschrieben, ohne es je gesehen zu haben. Der kreuzförmige Griff ließ darauf schließen, dass der Schlüssel irgendeiner christlichen Organisation gehörte, aber welche Kirche besaß schon einen Schlüssel mit Lasermatrix?

Außerdem war Sophies Großvater kein Christ.

Sophie war vor zehn Jahren unsanft darauf gestoßen worden. Ironischerweise hatte letzten Endes ein anderer, ganz normaler Schlüssel bewirkt, dass sie die wahre Natur ihres Großvaters entdeckt hatte.

Sie war an einem angenehm warmen Frühlingsnachmittag auf dem Flughafen Charles de Gaulle gelandet und mit einem Taxi nach Hause gefahren. Grand-père wird überrascht sein, dass du schon da bist. Sophie war ein paar Tage früher von der Uni in England in die Osterferien gereist und konnte es nun kaum erwarten, ihrem Großvater von den neuen Chiffriermethoden zu erzählen, die sie zurzeit studierte.

Als Sophie in der Pariser Wohnung eintraf, war ihr Großvater nicht da. Sie war enttäuscht, aber wie hätte er sie auch erwarten sollen? Vermutlich war er im Louvre und arbeitete. Aber es war Samstagnachmittag. Großvater arbeitete selten am Wochenende. Meist machte er dann …

Sophie rannte zur Garage. Der Wagen ihres Großvaters war fort, doch Saunière hasste den Stadtverkehr und benutzte den Wagen nur zu einem Zweck: um zu seinem Ferienschlösschen in der Normandie zu fahren. Nach Monaten in der drangvollen Enge Londons sehnte auch Sophie sich nach der Weite und dem Duft der Natur. Warum nicht sofort mit den Ferien beginnen? Es war ja noch früh am Abend.

Sophie beschloss, dem Großvater hinterherzufahren und ihn zu überraschen. Sie lieh sich den Wagen einer Freundin und fuhr nach Norden. Als sie kurz nach zehn durch die kurvenreiche verlassene Hügellandschaft bei Creully fuhr, stand hell der Mond am Himmel. Sophie bog in die lange Privatstraße zum Anwesen ihres Großvaters ein. Sie hatte schon die Hälfte der knapp zwei Kilometer langen Zufahrt hinter sich, als sie endlich das Haus durch die Baumwipfel sehen konnte – ein riesiges altes Gemäuer, das sich an die Flanke eines Hügels schmiegte.

Sophie, die eigentlich damit gerechnet hatte, dass ihr Großvater um diese Zeit schon schlafen gegangen war, bemerkte erfreut, dass im ganzen Haus noch das Licht brannte. Doch aus der Freude wurde Verwunderung, als sie die Einfahrt mit Luxuslimousinen zugeparkt fand – Mercedes, BMWs, Audis und ein Rolls Royce.

Nach kurzem Erstaunen musste Sophie lachen. Grand-père, der berühmte Einsiedler! Jacques Saunière schien bei weitem nicht so einsiedlerisch zu sein, wie er immer tat: Er feierte eine große Party, während Sophie im Ausland studierte. Den teuren Wagen nach zu schließen, mussten sich hier einige der einflussreichsten Persönlichkeiten von Paris ein Stelldichein gegeben haben.

Sophie war auf das überraschte Gesicht ihres Großvaters gespannt. Sie lief zur Eingangstür, doch sie war verschlossen. Sophie klopfte, doch niemand öffnete. Verwundert ging sie um das Gebäude herum und versuchte ihr Glück an der Hintertür. Auch hier war abgeschlossen. Nichts rührte sich.

Verwirrt verharrte sie einen Moment im Hof und lauschte. Nur der kühle normannische Frühlingswind war zu hören, der leise klagend durch das bewaldete Tal strich.

Keine Musik.

Keine Stimmen.

Kein Gelächter.

Nichts.

In der tiefen Stille des Waldes lief Sophie den halben Weg zurück zu einer Seite des Hauses, kletterte auf einen Holzstoß und spähte durch ein Fenster in den Salon. Der Anblick, der sich ihr bot, ergab keinen Sinn.

Das Erdgeschoss wirkte völlig verlassen.

Wo stecken denn die Leute!

»Ist jemand da?«, rief sie.

Mit pochendem Herzen lief Sophie in den Schuppen, wo Großvater einen Zweitschlüssel unter einer Kiste mit Brennholz versteckt hatte; mit diesem Schlüssel verschaffte sie sich Einlass. Als sie in die Eingangshalle trat, begann das rote Warnlämpchen auf dem Tastenfeld der Alarmanlage zu blinken – jetzt blieben noch zehn Sekunden, um den Zutrittscode einzugeben, sonst heulte die Alarmanlage los.

Großvater hat die Alarmanlage eingeschaltet? Bei einer Party?

Hastig tippte Sophie die dreistellige Zahlenfolge ein, die das System deaktivierte.

Im Innern fand sie das ganze Haus verlassen vor, auch die obere Etage. Als sie wieder nach unten kam und konsterniert im verlassenen Salon stand, hörte sie etwas.

Gedämpfte Stimmen.

Sie schienen von unten heraufzudringen.

Sophie legte das Ohr auf den Fußboden. Ja, die Stimmen kamen eindeutig von unten. Sie schienen zu singen oder zu … beten? Sophie bekam es mit der Angst zu tun. Denn fast noch gespenstischer als der Gesang war die Tatsache, dass das Haus keinen Keller hatte …

Jedenfalls, soweit sie wusste.

Sophie sah sich im Wohnzimmer um. Ihr Blick verharrte auf dem einzigen Gegenstand, der sich nicht an seinem gewohnten Platz befand – das Lieblingsstück ihres Großvaters, eine große Tapisserie von Aubusson. Der Wandteppich hing sonst immer vor der holzgetäfelten östlichen Wand neben dem Kamin, aber heute war er auf seiner Messingstange beiseite geschoben worden. Das Paneel dahinter war zu sehen.

Als Sophie darauf zuging, hatte sie den Eindruck, dass der Gesang noch lauter wurde. Zögernd legte sie das Ohr ans Paneel. Der monotone Singsang wurde deutlicher. Es war unverkennbar ein Chorgesang … mit völlig fremdartigen Lauten.

Hinter der Wand musste ein Hohlraum sein.

Als Sophie die Finger langsam über den Rand des Paneels gleiten ließ, ertastete sie eine versteckt eingearbeitete Vertiefung. Mit pochendem Herzen zwängte sie die Fingerspitzen in den Schlitz und schob. Eine Geheimtür! Geräuschlos glitt die hölzerne Wand zur Seite. Stimmen hallten aus dem Dunkel zu ihr herauf.

Sophie schlüpfte durch die Öffnung und stand vor einer schmucklosen, grob gearbeiteten Wendeltreppe, die nach unten führte. Seit ihrer Kindheit hatte sie dieses Haus regelmäßig besucht und wusste nicht einmal, dass es diese Wendeltreppe überhaupt gab …

Sie stieg hinunter. Kühle Luft wehte ihr entgegen, während sie auf die Stufen starrte, die gewunden in die Tiefe führten. Die letzte Stufe kam in Sicht. Sophie konnte ein kleines Stück des daran anstoßenden Kellerbodens erkennen: von orange flackerndem Feuerschein beleuchtete Steinplatten.

Mit angehaltenem Atem schlich sie ein paar Schritte voran und ging in die Hocke, um ein größeres Blickfeld zu haben. Sie brauchte ein paar Sekunden, um den Anblick zu verkraften, der sich ihr bot.

Sie blickte in eine Art Grotte, die roh aus dem anstehenden Granitgestein des Hügels herausgehauen zu sein schien. Mehrere Fackeln in eisernen Wandhaltern spendeten flackerndes, unstetes Licht. Ungefähr dreißig Personen bildeten in der Mitte des Raums einen Kreis im geisterhaften Lichtschein.

Das kann nicht sein, sagte sich Sophie. Das ist ein böser Traum.

Alle Anwesenden trugen Gesichtsmasken. Die Frauen waren in Gewänder aus durchsichtigem weißen Stoff gekleidet und trugen goldene Pantoffeln. Die Männer trugen schwarze Roben und schwarze Masken. Alles wirkte wie eine groteske Versammlung zu groß geratener Schachfiguren. Die Gestalten wiegten sich vor und zurück und intonierten einen Lobgesang auf irgendetwas, das offenbar zu ihren Füßen auf dem Boden vor sich ging, doch Sophie konnte es nicht sehen.