Der Singsang wurde schneller und lauter, schwoll an zum orgiastischen Donnerhall. Die ekstatische Gemeinschaft wogte vor, zurück, vor und fiel auf die Knie. In diesem Moment sah auch Sophie, was die anderen die ganze Zeit schon beobachtet hatten. Sie prallte vor Entsetzen zurück, doch im Bruchteil einer Sekunde hatte sich das scheußliche Bild für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt. Mir einem Würgen in der Kehle fuhr sie herum und flüchtete die Wendeltreppe hinauf, wobei sie an den Wandvorsprüngen Halt suchte. Hinter sich stieß sie die Geheimtür zu, flüchtete aus dem scheinbar verlassenen Haus und fuhr nach Paris zurück, wobei sie hemmungslos weinte.
Noch in dieser Nacht hatte sie ihre Siebensachen gepackt und ihr Heim verlassen. Ihr ganzes bisheriges Leben war unter der Wucht des Schocks, der Enttäuschung und der Irreführung zerbrochen. Auf dem Esstisch hatte sie einen Zettel hinterlassen:
ICH BIN DORT GEWESEN. WAGE NICHT, MICH ZU SUCHEN!
Neben den Zettel hatte sie den Zweitschlüssel aus dem Holzschuppen gelegt.
»Sophie!« Langdons Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Stopp! Stopp!«
Sophie stieg hart auf die Bremse. Mit kreischenden Reifen kam der Smart zum Stehen.
Langdon deutete die Straße hinunter.
Das Blut stockte Sophie in den Adern. Ungefähr hundert Meter vor ihnen war die Kreuzung durch quer gestellte Polizeifahrzeuge versperrt. Der Zweck dieser Aktion war eindeutig: Sie hatten die Avenue Gabriel dichtgemacht.
»Meine Botschaft ist heute Nacht offenbar ein wenig schwer zugänglich«, meinte Langdon lakonisch.
Zwei Polizisten, die unten an der Kreuzung neben ihren Streifenwagen standen, schauten neugierig zu ihnen hinauf. Wahrscheinlich fragen sie sich, warum der Smart so abrupt gehalten hatte.
Okay, Sophie, jetzt wirst du schön fahrschulmäßig wenden.
Sie legte den Rückwärtsgang ein, stieß zurück, wieder vor, noch einmal zurück und fuhr gesittet in der anderen Richtung davon. Sie war noch nicht im zweiten Gang, als sie hinter sich Reifen quietschen und zwei Martinshörner plärren hörte.
Fluchend gab sie Vollgas.
33. KAPITEL
An Botschaften und Konsulaten vorbei jagte Sophie mit dem Smart durchs Diplomatenviertel. Schließlich gelangte sie auf eine Querstraße, von der sie nach rechts in die große Hauptachse der Champs-Elysees einbiegen konnte.
Langdon drückte sich in den Beifahrersitz. Er hielt sich so krampfhaft fest, dass die Knöchel weiß hervortraten, und wünschte sich sehnlichst, nicht geflüchtet zu sein.
Du bist ja nicht geflüchtet, beruhigte er sich. Sophie hat dir die Entscheidung abgenommen. Sie hat den Minisender zum Toilettenfenster hinausgeworfen.
Während die Entfernung von der amerikanischen Botschaft stetig wuchs und Sophie im spärlichen nächtlichen Verkehr im Zickzackkurs über die Champs-Elysees jagte, spürte Langdon seine Felle weiter davonschwimmen. Sophie hatte zwar die Polizei abgehängt, doch Langdon bezweifelte, dass ihr Glück von langer Dauer war.
Sophie lenkte mit einer Hand, während sie mit der anderen in ihrer Pullovertasche wühlte. Schließlich zog sie einen kleinen Gegenstand ans Metall heraus und hielt ihn Langdon hin. »Werfen Sie mal einen Blick darauf, Robert. Das hat mein Großvater mir hinter Leonardos Felsgrottenmadonna hinterlassen.«
Gespannt nahm Langdon den schweren kreuzförmigen Gegenstand in die Hand. Er betrachtete prüfend den prismenförmigen Schaft am Kreuz, der mit Hunderten winziger Sechsecke übersät war, die mit einem Präzisionswerkzeug in zufälliger Folge hineingeprägt worden zu sein schienen.
»Das ist ein lasergefertigter Schlüssel«, erläuterte Sophie. »Diese Sechsecke werden von einem elektronischen Auge abgetastet.«
Ein Schlüssel? Langdon hatte so etwas noch nie gesehen.
»Schauen Sie sich mal die andere Seite an«, sagte Sophie und wechselte mitten auf einer Kreuzung geschickt die Spur.
Als Langdon den Schlüssel herumdrehte, riss er vor Überraschung die Augen auf. Säuberlich in die Mitte der Kreuzbalken eingraviert, befand sich eine stilisierte Lilie mit den Initialen P.S.
»Sophie«, stieß er hervor, »das ist das Emblem, von dem ich Ihnen erzählt habe! Das offizielle Emblem der Prieuré de Sion.«
Sophie nickte. »Wie gesagt, ich habe den Schlüssel vor langer Zeit schon einmal gesehen. Mein Großvater hat damals von mir verlangt, nie wieder von diesem Schlüssel zu reden.«
Langdon konnte den Blick nicht von dem gravierten Schlüssel wenden. In seiner High-Tech-Funktionsweise und seinem uralten Symbolgehalt vermischten sich auf gespenstische Weise die Welten der Vorzeit und der Moderne.
»Mein Großvater sagte damals, der Schlüssel gehöre zu einer Kiste, in der er seine Geheimnisse hüte.«
Langdon versuchte vergeblich, sich vorzustellen, welche Geheimnisse Jacques Saunière hüten mochte. Was eine uralte Bruderschaft mit einem futuristischen Schlüssel im Sinn hatte, war ihm ein ebensolches Rätsel. Die Prieuré existierte einzig zu dem Zweck, ein Geheimnis zu hüten – ein Geheimnis, das seinem Hüter ungeheure Macht verlieh. Könnte es sein, dass der Schüssel etwas damit zu tun hat? Was für eine atemberaubende Vorstellung.
»Wissen Sie, wozu dieser Schlüssel dient?«
Sophie schaute ihn an. »Ich dachte, das wüssten Sie.«
Langdon erwiderte nichts. Versonnen drehte er den kreuzförmigen Gegenstand in seinen Händen.
»Könnte der Schlüssel ein christliches Symbol sein?«, versuchte Sophie ihm auf die Sprünge zu helfen.
Langdon war sich keineswegs sicher. Der Griff des Schlüssels besaß nicht die traditionelle christliche Kreuzform mit dem langen und dem kurzen Balken, sondern wies vier gleich lange Balken auf – eine Form, die anderthalb Jahrtausende älter war als das Christentum. Solche Kreuze besaßen nicht den christlichen Symbolgehalt der Kreuzigung wie das lateinische Kreuz mit dem langen unteren Balken, das die Römer als Folterinstrument erfunden hatten. Langdon wunderte sich immer, dass Christen, wenn sie ein Kreuz betrachteten, in den seltensten Fällen wussten, dass schon der Name dieses zentralen christlichen Symbols seine Gewaltsamkeit widerspiegelte. Das Wort »Kreuz« leitete sich vom lateinischen »cruciare« ab, was nichts anderes als »quälen« oder »foltern« bedeutete.
»Ich kann Ihnen lediglich sagen, Sophie, dass solche Kreuze mit gleich langen Balken friedliche Symbole sind. Allein schon wegen ihrer quadratischen Form wären sie für Kreuzigungszwecke … nun, unpraktisch. Die Ausgeglichenheit der senkrechten und waagerechten Komponenten bezeichnet das natürliche Einssein von männlich und weiblich, wodurch ihr Symbolgehalt bestens zur Weltanschauung der Prieuré passt.«
Sophie blickte ihn müde an. »Einen anderen Reim können Sie sich nicht darauf machen?«
Langdon zuckte die Schultern. »Absolut nicht.«
»Okay, wir müssen langsam von der Straße verschwinden«, sagte Sophie und schaute in den Rückspiegel. »Wir müssen irgendwo unterkriechen und uns in aller Ruhe überlegen, wofür dieser Schlüssel ist.«
Langdon dachte sehnsüchtig an sein Zimmer im Ritz, das aus nahe liegenden Gründen aber nicht in Frage kam. »Wie wär's mit meinen Gastgebern an der amerikanischen Universität von Paris?«
»Zu offensichtlich. Sie werden bestimmt schon von Fache überwacht.«
»Sie müssen doch irgend jemanden kennen, Sophie. Sie leben hier.«
»Fache wird sämtliche Nummern aus meinem Telefon- und E-Mail-Verzeichnis abklappern und meine Verbindungen kappen. Und in ein Hotel können wir auch nicht, weil man sich dort ausweisen muss.«
Langdon fragte sich zum wiederholten Mal, ob es nicht besser gewesen wäre, sich von Fache im Louvre verhaften zu lassen. »Lassen Sie mich die Botschaft anrufen. Ich werde die Situation darlegen und darum bitten, dass man jemanden schickt, der uns irgendwo abholt.«