An mehreren Sälen mit blinkenden Großrechnern vorbei folgten ihm Langdon und Sophie durch eine Korridorflucht nach der anderen.
»Voici«, sagte der Kundenbetreuer schließlich. Er war an einer der vielen Stahltüren stehen geblieben und hatte sie geöffnet. »Treten Sie bitte ein.«
Langdon und Sophie gelangten in eine andere Welt. Der Raum wirkte wie ein feudales kleines Gesellschaftszimmer in einem Nobelhotel. Kein kaltes Stahlblech und keine Nieten mehr, sondern üppige Orientteppiche, dunkle Eichenmöbel und weiche Fauteuils. Auf dem breiten Tisch in der Mitte des Raums standen zwei Kristallbecher neben zwei frisch geöffneten Flaschen Perrier, in denen die Kohlesäurebläschen tanzten. Daneben dampfte eine Kanne mit frischem Kaffee.
Diese Schweizer, dachte Langdon. Präzise wie die Uhrmacher, die sie nun mal sind.
Der Mann setzte ein komplizenhaftes Lächeln auf. »Gnädige Frau, gehe ich recht in der Annahme, dass dies Ihr erster Besuch bei uns ist?«
Sophie zögerte kurz, bevor sie nickte.
»Verstehe. Es kommt durchaus vor, dass unter unserer Kundschaft Schlüssel vererbt werden. Bei ihrem ersten Besuch können die Begünstigten in diesem Fall natürlich nicht mit unserem Protokoll vertraut sein.« Der Kundenberater deutete auf den Tisch mit den Getränken. »Dieser Raum steht Ihnen zeitlich unbegrenzt zur Verfügung.«
»Sie sagten, dass ein Schlüssel auch vererbt werden kann?«, erkundigte sich Sophie.
»Durchaus. Mit den Schlüsseln verhält es sich wie mit den Nummernkonten, die manchmal ebenfalls von einer Generation auf die nächste Generation vererbt werden. Die kürzeste Mietzeit für unsere Goldschließfächer beispielsweise beträgt fünfzig Jahre, wobei die Gebühr selbstverständlich im Voraus zu entrichten ist. Das führt häufig zur Weitergabe der Fächer innerhalb der Familie.«
Langdon riss die Augen auf. »Fünfzig Jahre?«
»Mindestens, Monsieur«, bestätigte der Kundenbetreuer. »Es können natürlich auch wesentlich längere Fristen vereinbart werden. Wenn während dieser Zeit keine Bewegung stattfindet und nichts anderes vereinbart wurde, wird der Inhalt des Schließfachs nach Ablauf der Mietfrist automatisch der Vernichtung zugeführt. Wünschen Sie, dass ich Ihnen die Zugriffsprozedur auf Ihre Depotbox erläutere?«
Sophie nickte. »Ja, bitte.«
Der Kundenberater machte eine weit ausholende Geste, die den gesamten Salon umfasste. »Hier können Sie sich in aller Ruhe mit Ihrem Depot beschäftigen, sobald ich den Raum verlassen habe. Sie können sich gänzlich ungestört und solange Sie wollen mit der Überprüfung, Umschichtung oder Räumung Ihres Depots befassen, das sich in einem Behälter befindet, der … bitte sehr, gnädige Frau … hier drüben erscheint.« Er komplimentierte Sophie und Langdon zur gegenüberliegenden Wand, wo ein breites Transportband in elegantem Schwung in den Raum mündete. Die Apparatur erinnerte ein wenig an das Kofferkarussell auf einem Flughafen. »Sie führen Ihren Schlüssel in diese Öffnung ein.« Der Mann deutete auf eine große elektronische Betätigungskonsole mit dem vertrauten dreieckigen Loch vor dem Transportband. »Sobald der Computer Ihren Schlüssel anhand der Markierungen identifiziert hat, werden Sie aufgefordert, Ihre geheime Depotnummer einzugeben, worauf Ihre Depotbox aus unserem Tresorbunker vollautomatisch zu Ihrer Verfügung heraufgefahren wird. Wenn Sie fertig sind und den Behälter bitte wieder aufs Band gelegt haben, wiederholt sich der Vorgang in umgekehrter Reihenfolge. Durch die vollautomatisierten Abläufe ist absolute Anonymität garantiert, auch gegenüber den Mitarbeitern unseres Hauses. Falls die Herrschaften irgendetwas benötigen, drücken Sie bitte auf den Rufknopf auf dem Tisch in der Mitte des Raums.«
Sophie wollte gerade eine Frage stellen, als das Telefon klingelte. Der Kundenberater blickte sich indigniert um. »Entschuldigen Sie mich bitte.« Er ging zum Telefon, das neben den Getränken auf dem Tisch stand.
Erhob ab. »Oui?«
Seine Brauen wölbten sich, als er dem Anrufer zuhörte. »Oui … oui … d'accord.« Er legte auf und sah Sophie und Langdon unbehaglich lächelnd an. »Es tut mir Leid, ich muss Sie jetzt leider allein lassen«, sagte er und eilte zur Tür.
»Entschuldigen Sie«, rief Sophie ihm hinterher, »könnten Sie mir bitte noch etwas erklären, bevor Sie gehen? Sie haben da von einer geheimen Depotnummer gesprochen … «
Der Mann hielt unter der Tür inne. Er war ein wenig blass geworden. »Ja, gewiss. Wie bei den meisten Schweizer Banken lauten unsere Depots auf eine Nummer, nicht auf einen Namen. Sie haben Ihren Schlüssel und Ihre persönliche geheime Depotnummer, die nur Ihnen allein bekannt ist. Ihr Schlüssel ist nur die eine Hälfte Ihrer Identifikation. Ihre persönliche Depotnummer ist die andere. Gesetzt den Fall, gnädige Frau, Sie würden den Schlüssel verlieren, könnte damit sonst jeder an Ihr Schließfach.«
Sophie zögerte. »Und wenn der Erblasser mir keine Depotnummer hinterlassen hat?«
Das Herz des Bankiers pochte noch heftiger. Dann haben Sie hier nichts zu suchen. Er lächelte Sophie beruhigend an. »Ich werde jemanden bitten, Ihnen zu helfen. Er wird in Kürze bei Ihnen sein.«
Der Kundenberater ging hinaus, schloss die Tür hinter sich und drehte außen den schweren Schlüssel um.
Sophie und Langdon waren gefangen.
Auf der anderen Seite der Stadt eilte Leutnant Collet durch den Gare du Nord, als sein Handy sich meldete.
Fache war am Apparat. »Interpol hat einen Tipp bekommen«, sagte er. »Vergessen Sie den Zug. Langdon und Neveu sind soeben in der Pariser Filiale der Zürcher Depositenbank aufgetaucht. Ich erwarte Sie und Ihre Männer umgehend vor Ort.«
»Haben Sie schon herausgefunden, was Saunière Robert Langdon und Agentin Neveu mitzuteilen hatte?«, fragte Collet neugierig.
»Nehmen Sie die beiden hopp, Collet«, sagte Fache, »dann werde ich sie persönlich danach fragen.«
Collet begriff, was die Stunde geschlagen hatte. »Rue Haxo, Nummer vierundzwanzig. Bin schon unterwegs, Chef.«
Er stellte das Handy ab und rief seine Männer zusammen.
43. KAPITEL
André Vernet, Pariser Filialdirektor der Zürcher Depositenbank, wohnte in einem Luxus-Penthaus über seiner Dienststätte. Obwohl sein Domizil keine Wünsche offen ließ, träumte er von einer Wohnung auf der Ile Saint-Louis, wo die wahren cognoscendi seine Nachbarn wären, im Gegensatz zu hier, wo er es lediglich mit neureichen Geldsäcken zu tun hatte.
Wenn du dich zur Ruhe setzt, ging es Vernet durch den Kopf, und er lächelte verzückt, wird dein Weinkeller mit altem Bordeaux bestückt, im Salon kommt ein Fragonard oder vielleicht ein Boucher an die Wand, und den Rest deiner Tage verbringst du mit der Jagd nach antiken Möbeln und seltenen Büchern im Quartier Latin …
Als Vernet in dieser Nacht im makellosen Seidenanzug durch die unterirdischen Flure seines Bankinstituts eilte, war er erst sechseinhalb Minuten wach, doch er sah aus wie aus dem Ei gepellt. Im Laufen sprühte er sich ein Atemspray in den Mund und zupfte den Knoten seiner Krawatte zurecht. Er war es gewohnt, aus dem Schlaf gerissen zu werden, um sich der internationalen Kundschaft zu widmen, die aus den verschiedensten Zeitzonen der Welt angereist kam. Praktischerweise hatte Vernet die Schlafgewohnheiten der Massai-Krieger angenommen, eines afrikanischen Stammes, der dafür berühmt war, dass die Männer sich nach dem Erwachen aus tiefstem Schlaf binnen Sekunden in hellwacher Kampfbereitschaft befanden.
Kampfbereitschaft, dachte Vernet. Er fürchtete, dass dieses Wort zum Motto dieser Nacht werden konnte. Wenn ein Kunde mit einem goldenen Schlüssel auftauchte, musste man ihm stets ein gewisses Maß an erhöhter Aufmerksamkeit widmen, aber wenn dieser Kunde mit dem goldenen Schlüssel auch noch von der Polizei gesucht wurde, war äußerstes Fingerspitzengefühl angesagt. Die Bank hatte mit den Behörden schon genug Ärger über die Rechte zum Schutz der Privatsphäre ihrer Kunden. Und normalerweise saß die Polizei der Kundschaft nicht schon im Nacken.