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»Der Schlussstein der Prieuré ist leider nicht mein Spezialgebiet«, räumte er ein. »Mein Interesse am Heiligen Gral galt vor allem den symbolischen Aspekten. Ich habe mich deshalb nur am Rande mit dem reichen Sagengut über die Gralssuche befasst, wo abgehandelt wird, wie man ihn findet.«

Sophie hob die Brauen. »Sie meinen, den Heiligen Gral?«

Langdon nickte. Die nächsten Worte wählte er mit Bedacht. »Nach der Überlieferung der Prieuré de Sion ist der Schlussstein so etwas wie eine verschlüsselte Landkarte … ein Wegweiser, der den Suchenden zu dem Ort führt, an dem der Gral verborgen ist.«

Auf Sophies Gesicht spiegelte sich Verwirrung. »Und Sie glauben, wir hatten diesen Wegweiser hier vor uns?«

Langdon wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Es fiel ihm ja selbst schwer, daran zu glauben; dennoch drängte sich ihm diese Schlussfolgerung geradezu auf. Ein verschlüsselter Stein, verborgen unter dem Zeichen der Rose.

Die Vorstellung, dass das Kryptex eine Erfindung Leonardo da Vincis war – eines früheren Großmeisters der Prieuré de Sion –, die ein anderes Mitglied der Bruderschaft Jahrhunderte später verwirklicht hatte, machte den Gedanken, dass es sich hier tatsächlich um den Schlussstein der Prieuré handelte, noch plausibler.

Die Verbindung war zu offenkundig, als dass man sie von der Hand weisen konnte.

In der zurückliegenden Dekade hatten Historiker die Suche nach dem Schlussstein in französischen Kirchen aufgenommen. Die Gralssucher – mit den Doppeldeutigkeiten der Verlautbarungen der Prieuré vertraut – waren zu dem Ergebnis gekommen, man müsse den clef de voûte wörtlich als »Schlussstein« verstehen, als einen mit einer verschlüsselten Inschrift versehenen keilförmigen Stein, der irgendwo in einer Kirche als Schlussstein eines Gewölbes eingesetzt worden war. Unter dem Zeichen der Rose. Rosen waren in der Kirchenarchitektur allgegenwärtig: Fensterrosen, Rosettenreliefs und die Fünfpässe, jene allegorischen fünfblättrigen Rosen, die häufig den Spitzbogen von Fenstern in gotischen Kirchen zierten … Das Versteck war von genialer Banalität. Der Wegweiser zum Heiligen Gral war möglicherweise irgendwo im Gewölbe einer Kirche eingefügt, hoch über den Köpfen der ahnungslosen Kirchgänger …

»Dieses Kryptex kann nicht der Schlussstein sein«, gab Sophie zu bedenken. »Es ist nicht alt genug. Ich bin sicher, mein Großvater hat es gebaut. Wie soll es da in einer alten Gralslegende eine Rolle spielen.«

»Das wäre kein Hinderungsgrund«, sagte Langdon aufgeregt. »Es beißt, die Prieuré hätte den Schlussstein erst in den vergangenen Jahrzehnten geschaffen.«

Sophie blickte ihn ungläubig an. »Nur mal angenommen, dieses Kryptex enthält tatsächlich die Wegbeschreibung zum Heiligen Gral – warum sollte mein Großvater es ausgerechnet mir vermacht haben? Ich weiß ja noch nicht einmal, was der Heilige Gral überhaupt ist!«

Zu seinem Erstaunen musste Langdon gestehen, dass Sophie nicht ganz Unrecht hatte. Er war bislang noch nicht dazu gekommen, ihr zu erklären, was es mit dem Gral wirklich auf sich hatte. Aber dafür war im Moment keine Zeit. Jetzt ging es erst einmal um den Schlussstein.

Falls es sich hier wirklich um den Schlussstein handelt.

Während unter ihnen die schusssicheren Reifen über den Asphalt surrten, berichtete Langdon Sophie in aller Kürze, was er über dieses Thema wusste. Das größte Geheimnis der Prieuré de Sion – das Versteck des Heiligen Grals – war angeblich über Jahrhunderte nicht schriftlich niedergelegt worden. Den neu ins Amt gekommenen Seneschallen war dieses Wissen aus Gründen der Sicherheit immer nur mündlich anvertraut worden, im Rahmen einer heimlichen Zeremonie. Irgendwann im zwanzigsten Jahrhundert wurde jedoch gerüchteweise laut, dass die Prieuré ihre Vorgehensweise geändert hätte. Es mochte mit den ungeahnten Möglichkeiten der elektronischen Spionagetechniken zu tun haben – die Prieuré gelobte jedenfalls, nie wieder den Namen des geheiligten Orts, an dem der Gral versteckt war, laut auszusprechen.

»Aber wie hat man dann das Geheimnis weitergegeben?«, fragte Sophie verwundert.

»Hier kommt der Schlussstein ins Spiel. Wenn eines der vier ranghöchsten Ordensmitglieder starb, suchten die verbliebenen drei sich in den niedrigeren Rängen der Prieuré einen Nachfolgekandidaten für das verwaiste Amt des Seneschalls. Dem Nachfolger wurde das Geheimnis jedoch nicht eröffnet, sondern in Gestalt einer Prüfung präsentiert. Wenn er sie bestand, hatte er den Nachweis erbracht, des Amtes würdig zu sein.«

Sophie wirkte alarmiert. Sie fühlte sich an jene ›Schatzsuchen‹ erinnert, die ihr Großvater für sie veranstaltet hatte. Die Weitergabe des Schlusssteins war offenbar ein ganz ähnliches Konzept. Andererseits waren solche Prüfungen bei Geheimgesellschaften üblich. Am bekanntesten war vielleicht das Verfahren der Freimaurer: Mitglieder konnten sich einen höheren Rang erwerben, indem sie sich als fähig erwiesen, über lange Zeit ein Geheimnis zu hüten und über Jahre hinweg Rituale einzuhalten und Prüfungen ihrer Würdigkeit abzulegen. Die Prüfungen wurden von Mal zu Mal schwieriger und gipfelten in der Einführung in den zweiunddreißigsten Grad.

»Das Kryptex ist also eine preuve de mérite«, sagte Sophie. »Wenn ein angehender Seneschall es öffnen kann, hat er sich damit des Geheimnisses als würdig erwiesen, das im Kryptex enthalten ist.«

Langdon nickte. »Ich habe vergessen, dass Sie in solchen Dingen bewandert sind.«

»In der Kryptologie spricht man in diesem Zusammenhang von einer ›sich selbst autorisierenden Sprache‹, was so viel bedeutet, dass derjenige, der schlau genug ist, einen verschlüsselten Text zu lesen, auch die Befugnis hat, seinen Inhalt zu erfahren.«

Langdon zögerte. »Sophie, Ihnen ist doch klar, dass Ihr Großvater, wenn wir hier tatsächlich den Schlussstein vor uns haben, ein außerordentlich hohes Amt in der Prieuré de Sion bekleidet haben muss. Einen der vier höchsten Ränge überhaupt.«

Sophie seufzte. »Ich bin sicher, dass er ein sehr mächtiger Mann in einer Geheimgesellschaft gewesen ist. Dass es die Prieuré war, kann ich allerdings nur vermuten.«

Langdon sah sie verblüfft an. »Sie haben gewusst, dass er einer Geheimgesellschaft angehörte?«

»Ich habe vor zehn Jahren Dinge gesehen, die ich nicht sehen sollte. Seitdem haben wir nicht mehr miteinander geredet.« Sophie hielt inne. »Mein Großvater war nicht bloß ein ranghohes Mitglied dieser Organisation, ich habe Grund zu der Annahme, dass er der Ranghöchste war.«

Langdon konnte kaum glauben, was er da hörte. »Dann wäre er der Großmeister gewesen. Aber es ist völlig ausgeschlossen, dass Sie davon erfahren hätten!«

»Darüber möchte ich mich lieber nicht auslassen.« Sophie blickte zur Seite. Entschlossenheit und Schmerz spiegelten sich auf ihrem Gesicht.

Langdon konnte es nicht fassen. Jacques Saunière war der Großmeister? Trotz der beinahe unglaublichen Implikationen, die sich daraus ergaben – Langdon hatte das beklemmende Gefühl, dass es tatsächlich so war. Schließlich waren bisher sämtliche Großmeister auch angesehene Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens mit einer ausgeprägten künstlerischen Ader gewesen. Den Beweis dafür hatte man vor Jahren in der Pariser Nationalbibliothek in einem Dokument entdeckt, das unter dem Namen Les Dossiers Secrets, die Geheimdossiers, bekannt geworden ist.