Выбрать главу

»Dazu möchte ich eine interessante Anmerkung machen«, warf Langdon ein. »Wer die neue Evangeliensammlung Konstantins nicht annehmen wollte und bei den alten Lehren blieb, wurde zum Ketzer erklärt, zum Häretiker. Die Bezeichnung Häretiker gibt es erst seit dieser Zeit. Das lateinische Wort haerere heißt haften, beharren. Wer auf dem ursprünglichen Jesusbild beharrte, war ein Häretiker.«

»Konstantin ließ fast alle alten Schriften vernichten. Zum Glück für uns Historiker blieben einige dennoch der Nachwelt erhalten. In einer Höhle bei Qumran in der Wüste von Judäa wurden im Jahr 1950 die Schriftrollen vom Toten Meer entdeckt. Und dann gibt es natürlich noch die koptischen Schriftrollen von Nag Hammadi. Abgesehen davon, dass diese Dokumente die wahre Gralsgeschichte erzählen, sprechen sie in einer sehr menschlichen Weise vom Wirken Jesu. Natürlich hat der Vatikan in Fortsetzung seiner Tradition der Verschleierung und Informationsunterdrückung mit allen Mitteln versucht, die Veröffentlichung dieser Schriften zu verhindern. Grund dazu hatte er genug. Anhand der Schriftrollen treten augenfällige historische Ungereimtheiten und Fälschungen zutage, die klar erkennen lassen, dass unser heutiges Neues Testament von Männern zusammengestellt und herausgegeben wurde, die eine politische Absicht damit verbunden haben. Zur Untermauerung ihres eigenen Machtanspruchs musste aus dem Menschen Jesus Christus der Sohn Gottes gemacht werden.«

»Trotzdem darf man nicht vergessen«, warf Langdon ein, »dass die Bestrebungen der modernen Kirche, diese Dokumente zu unterdrücken, sich aus dem festen Glauben an das herkömmliche Christusverständnis herleiten. Im Vatikan sitzen lauter fromme Leute, die subjektiv redlich davon überzeugt sind, dass diese Dokumente ein falsches Bild wiedergeben.«

Auflachend ließ Teabing sich Sophie gegenüber in einen Sessel sinken. »Wie Sie sehen, geht unser Professor mit der katholischen Kirche weitaus milder ins Gericht als ich. Dennoch trifft es zu, wenn er sagt, dass der moderne Klerus diese unbequemen Dokumente aus ehrlicher Überzeugung für irreführend hält. Man kann das verstehen. Solange sie denken können, ist das konstantinische Neue Testament ihre Wahrheit gewesen. Niemand ist stärker indoktriniert als der Indoktrinierende selbst.«

»Sir Leigh will damit sagen, dass wir den Gott unserer Väter verehren«, meinte Langdon.

»Ich will damit sagen«, präzisierte Teabing, »dass fast alles, was unsere Väter uns über Christus gelehrt haben, falsch ist. Und mit den Legenden über den Heiligen Gral sieht es nicht besser aus.«

Sophies Blick fiel wieder auf das Buch mit dem Da-Vinci-Zitat:

Unkenntnis blendet und lasse uns in die Irre gehen. Oh, ihr elenden Sterblichen, öffnet die Augen.

Teabing griff nach dem Band und blätterte zurück zur Mitte. »Bevor ich Ihnen da Vincis Gemälde vom Heiligen Gral zeige, sollten Sie sich einmal kurz das hier ansehen. Er schlug eine farbige Doppelseite auf. »Ich nehme an, Sie kennen dieses Fresko.«

Jetzt nimmt er dich aber auf den Arm! Vor Sophie lag das berühmteste Fresko aller Zeiten, Das letzte Abendmahl, Leonardos weltbekanntes Wandgemälde im Refektorium des Dominikanerklosters Santa Maria delle Grazie in Mailand. Auf dem stark beschädigten und verfallenen Fresko ist jener Augenblick festgehalten, als Jesus beim letzten Abendmahl seinen zwölf Jüngern verkündet, dass einer aus ihrer Mitte ihn verraten wird.

»Natürlich kenne ich da Vincis Abendmahl«, sagte Sophie.

»Dann wollen wir ein kleines Spiel spielen, wenn Sie gestatten, Ich möchte Sie bitten, die Augen zu schließen.«

Ein wenig verunsichert machte Sophie die Augen zu.

»Wo sitzt Jesus?« fragte Teabing.

»In der Mitte.«

»Gut. Und was essen Jesus und die Jünger?«

»Brot.« Was denn sonst?

»Und was trinken sie?«

»Wein.«

»Sehr gut. Und jetzt noch eine letzte Frage. Wie viele Weingläser stehen auf dem Tisch?«

Sophie dachte nach, denn das konnte eine Fangfrage sein. Und er nahm den Kelch und dankte, gab ihnen den Kelch und sprach … »Keine Gläser. Ein Kelch.« Der Kelch Christi. Der Heilige Gral. »Jesus hat einen Kelch mit Wein herumgereicht, ähnlich wie es heutzutage noch manche Konfessionen bei der Kommunionfeier tun.«

Teabing seufzte. »Öffnen Sie die Augen«, sagte er.

Sophie schlug die Augen auf und sah Sir Leigh selbstgefällig grinsen. Als sie das Gemälde betrachtete, bemerkte sie erstaunt, dass jede der abgebildeten Personen, auch Jesus, einen Weinbecher hatte. Dreizehn Becher, nicht besonders groß, aus Glas und ohne Stiel. Auf dem ganzen Gemälde gab es keinen Kelch. Keinen Heiligen Gral.

»Ein bisschen seltsam, finden Sie nicht?«, sagte Teabing und zwinkerte Sophie zu. »Dabei ist dieser Moment für die Heilige Schrift und die Gralslegenden jener Augenblick, an dem der Heilige Gral ins Licht der Geschichte tritt. Merkwürdigerweise scheint Leonardo in seinem Gemälde den Kelch Christi vergessen zu haben.«

»Das müsste den Kunstgelehrten doch längst aufgefallen sein.«

»Sie werden sich noch wundern, welche Abweichungen da Vinci sich hier geleistet hat, ohne dass die Mehrzahl der Gelehrten es zur Kenntnis genommen hat oder zur Kenntnis nehmen wollte. Dieses Fresko ist der Schlüssel zum Gralsgeheimnis. In seinem Letzten Abendmahl hat da Vinci es unverhüllt dargestellt.«

Sophies Blicke huschten über die Abbildung. »Dann ist diesem Fresko zu entnehmen, was der Gral in Wirklichkeit ist?«

»Nicht was er ist«, sagte Teabing leise und eindringlich, »sondern wer er ist. Der Heilige Gral ist kein Gegenstand. Er ist ein Mensch.«

56. KAPITEL

»Der Heilige Gral ist ein Mensch?« Sophie blickte entgeistert von Teabing zu Langdon.

Langdon nickte. »Eine Frau, um genau zu sein.«

Auf Sophies Gesicht war deutlich abzulesen, dass sie nicht mehr folgen konnte. Langdon erinnerte sich daran, dass er bei seiner ersten Konfrontation mit dieser Aussage kaum anders reagiert hatte. Erst als er den Symbolgehalt des Grals verstanden hatte, war ihm die Verbindung zum Mythos der Weiblichkeit klar geworden.

»Das ist jetzt vielleicht der Zeitpunkt, Robert, da der Symbolologe ein klärendes Wort sprechen sollte«, sagte Teabing, der offenbar in ähnlichen Bahnen dachte.

Langdon zog einen Stift aus der Tasche und griff nach einem Blatt Papier. »Sie kennen doch die modernen Symbole für männlich und weiblich, Sophie?«

Er zeichnete die Symbole ? für männlich und ? für weiblich.

»Natürlich«, sagte Sophie.

»Das sind aber nicht die ursprünglichen Zeichen. Vielfach wird fälschlicherweise angenommen, dass das männliche Symbol einen Schild mit einem Speer darstellt und das weibliche einen Spiegel für die Schönheit. In Wirklichkeit handelte es sich ursprünglich um die astronomischen Symbole für den Planetengott Mars und die Planetengöttin Venus. Die alten Symbole für männlich und weiblich sind viel einfacher.«

Langdon zeichnete ein Winkelzeichen mit der Spitze nach oben aufs Papier.

/\

»Das ist das ursprüngliche Zeichen für männlich«, erklärte er, »ein rudimentärer Phallus.«

»Sehr rudimentär«, sagte Sophie.

»Aber immerhin«, meinte Teabing.

Langdon setzte seine Erklärung fort. »Dieses Zeichen nennt man den Winkel. Es steht für Aggression und Männlichkeit. Es wird heute noch als militärisches Rangabzeichen auf die Uniformen genäht.«