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Sophie kam die Nacht allmählich wie ein seltsamer Traum vor, wie eine Schattenwelt, in der sämtliche Erwartungen immer wieder von einer irrationalen Wirklichkeit zunichte gemacht wurden. »Und das brauchen Sie alles für Ihre Arbeit?«

»Die Suche nach der Wahrheit ist die Liebesaffäre meines Lebens, und meine Geliebte heißt Sangreal.«

Der Heilige Gral ist eine Frau. In Sophies Kopf drängten sich die zusammenhanglosen Theorien, die keinen Sinn zu ergeben schienen. »Sie haben gesagt, Sie hätten ein Bild jener Frau, die Ihrer Behauptung zufolge der Heilige Gral ist …?«

»In der Tat. Aber die Behauptung stammt nicht von mir, sondern von Christus selbst.«

»Welches Bild ist es denn?«, fragte Sophie und ließ den Blick über die Wände schweifen.

»Hmmm … « Teabing tat, als müsse er angestrengt nachdenken. »Der Heilige Gral … der Sangreal … der Kelch … « Plötzlich fuhr er herum und deutete auf die Stirnwand des Saales, an der eine zwei Meter fünfzig breite Reproduktion von da Vincis Abendmahl hing – das gleiche Bild, das Sophie soeben in dem Kunstband betrachtet hatte. »Da ist es ja!«

Sophie glaubte, nicht richtig verstanden zu haben. »Aber das ist doch das Werk von da Vinci, das Sie mir eben gezeigt haben.«

Er zwinkerte ihr zu. »Ich weiß, aber ist die Vergrößerung nicht viel eindrucksvoller?«

Sophie blickte Langdon ratlos an. »Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.«

Langdon lächelte. »Der Heilige Gral ist tatsächlich auf diesem Fresko abgebildet. Leonardo hat dafür sogar eine herausragende Stelle gewählt.«

»Jetzt mal langsam«, sagte Sophie. »Haben Sie mir nicht gesagt, der Gral sei eine Frau? Aber Leonardo da Vincis Abendmahl ist doch ein Bild mit dreizehn Männern.«

Teabing hob die Brauen. »Ach ja?«, sagte er. »Dann schauen Sie mal genau hin.«

Sophie trat ein Stück näher an das Gemälde heran und betrachtete prüfend die dreizehn Gestalten – Jesus Christus in der Mitte, sechs Apostel zu seiner Rechten, sechs zu seiner Linken. »Alles Männer«, stellte sie fest.

»Tatsächlich?«, sagte Teabing. »Was halten Sie denn von dem Herrn auf dem Ehrenplatz zur Rechten Jesu?«

Sophie betrachtete die Gestalt eingehend. Sie hatte weich fließendes, langes rotes Haar; die zarten Hände waren gefaltet, und sogar die Andeutung eines Busens war zu sehen.

»Das ist tatsächlich eine Frau!«, rief Sophie aus.

Teabing lachte. »Leonardo war sehr geschickt im Herausarbeiten der Geschlechtsunterschiede!«

Sophie konnte den Blick nicht von der Frau neben Christus wenden. Wer war diese Frau auf dem Bild, auf dem doch eigentlich dreizehn Männer sein sollten? Sophie hatte das Fresko schon unzählige Mal gesehen, aber die Diskrepanz war ihr nie zuvor aufgefallen.

»Das geht allen so«, sagte Teabing. »Diese Szene ist durch unsere vorgefasste Meinung so eindeutig definiert, dass unser Hirn die Unstimmigkeit nicht zur Kenntnis nimmt und den Augenschein unterdrückt.«

»Klassischer Fall von Skotom – partieller Ausfall des Gesichtsfelds«, sagte Langdon. »Eine wohl bekannte Reaktion unseres Gehirns bei machtvollen Symbolen.«

»Ein weiterer Grund dafür, dass die Frau Ihnen entgangen ist, Sophie«, meinte Teabing, »mag darin liegen, dass man in den Kunstbänden oft ältere Reproduktionen findet, als die Feinheiten noch unter einer dicken Schmutzschicht und den ungeschickten Restaurierungsversuchen des achtzehnten Jahrhunderts verborgen lagen. Inzwischen wurde da Vincis ursprünglicher Farbauftrag endlich freigelegt … et voilà!« Er deutete auf die Großreproduktion.

Sophie trat noch näher heran. Die Frau an der Seite Jesu wirkte jung und fromm, hatte einen zurückhaltenden Gesichtsausdruck, schönes rotes Haar und faltete still die Hände. Das soll die Frau sein, die der katholischen Kirche mit einem Schlag den Todesstoß versetzen könnte?

»Wer ist das?«, erkundigte sich Sophie.

»Das, meine Liebe«, gab Teabing zur Antwort, »ist Maria Magdalena.«

Sophie fuhr herum. »Die Dirne?«

Teabing sog wie von einem schmerzhaften Hieb getroffen kurz und scharf die Luft ein. »Maria Magdalena war ganz und gar keine Dirne. Diese schlimme Verfälschung ist das Ergebnis einer bewussten Verleumdungskampagne der Kirche, die Maria Magdalena in den Schmutz ziehen musste, um das gefährliche Geheimnis dieser Frau unter den Teppich zu kehren – ihre Funktion als Heiliger Gral.«

»Ihre was?«

»Wie ich schon sagte«, fuhr Teabing fort, »stand die Kirche vor der Notwendigkeit, die Welt davon zu überzeugen, dass Jesus der Sohn Gottes und nicht etwa ein sterblicher Prophet war. Aus diesem Grund waren sämtliche weltlichen Aspekte des Lebens Jesu aus den Evangelien gestrichen worden. Doch sehr zum Leidwesen der damaligen Bearbeiter tauchte immer wieder ein Störfaktor in den Evangelien auf, nämlich Maria Magdalena – oder genauer, dass Jesus mit Maria Magdalena verheiratet war.«

»Wie bitte?« Sophies Blick wanderte Hilfe suchend zu Langdon und wieder zurück zu Teabing.

»Es handelt sich hier um eine historisch verbürgte Tatsache«, sagte Teabing, »die Leonardo da Vinci mit Sicherheit bekannt war. Dass Jesus und Maria Magdalena ein Paar waren, schleudert da Vinci dem Betrachter in seinem Abendmahl geradezu ins Gesicht.«

Wieder betrachtete Sophie das Fresko.

»Fällt Ihnen auf, dass Jesus und Maria Magdalena komplementär gekleidet sind?« Teabing deutete auf die beiden Gestalten in der Mitte des Freskos.

Jesus trug ein rotes Untergewand und einen blauen Mantel, Maria Magdalena ein blaues Untergewand und einen roten Umhang. Yin und Yang. Sophie war fasziniert.

»Wenn man die Sache noch etwas weiter treiben will«, sagte Teabing, »werden Sie bemerken, dass Jesus und seine Braut an der Hüfte miteinander verbunden zu sein scheinen, wobei sie sich voneinander weglehnen, wie um diesen deutlich abgegrenzten unausgefüllten Raum zwischen sich zu schaffen.«

Teabing brauchte die Linie gar nicht nachzuzeichnen. Sophie sah auch so die eindeutige \/-Form im Brennpunkt des Gemäldes. Es war die gleiche Symbolfigur, die Langdon zuvor für den Gral, den Kelch und den weiblichen Schoß aufgezeichnet hatte.

»Und wenn Sie schließlich Jesus und Maria Magdalena nicht als Figuren, sondern als kompositorische Elemente betrachten«, sagte Teabing, »wird Ihnen noch ein weiteres unübersehbares Formelement ins Auge springen.« Er machte eine Kunstpause. »Ein Buchstabe des Alphabets.«

Sophie sah es sofort – »ins Auge springen« wäre sogar noch eine Untertreibung gewesen. Sie sah plötzlich nur noch den Buchstaben, sonst nichts mehr. Im Zentrum des Bildes prangte unübersehbar ein perfekt geformtes großes M.

»Für einen Zufall ein bisschen zu deutlich, meinen Sie nicht?«, sagte Teabing.

»Was soll das M an dieser Stelle?«, wollte Sophie verwundert wissen.

Teabing hob die Schultern. »Einige Verschwörungstheoretiker behaupten, es stünde für Matrimonium oder Maria Magdalena, aber um ehrlich zu sein – niemand weiß es so genau. Sicher ist nur, dass das M kein Zufall ist. In zahllosen Werken, die eine Beziehung zum Gral aufweisen, tritt dieses M mehr oder minder verborgen in Erscheinung, sei es als Wasserzeichen, als Untermalung oder als Kompositionselement. Das unverhohlenste M findet sich natürlich auf dem Altarbild der Kirche Our Lady of Paris in London von Jean Cocteau, einem vormaligen Großmeister der Prieuré de Sion

»Ich gebe zu, dass diese verborgenen M zu denken geben«, sagte Sophie nachdenklich, »aber es wird wohl kaum jemand so weit gehen, darin den Beweis zu sehen, dass Jesus und Maria Magdalena verheiratet waren.«

»Nein, nein«, sagte Teabing und trat an einen mit Büchern überladenen Tisch. »Wie ich schon sagte, die Ehe zwischen Jesus und Maria Magdalena ist historisch verbürgt.« Er stöberte in den Wälzern herum. »Außerdem ist es weitaus sinnvoller anzunehmen, dass Jesus ein verheirateter Mann gewesen ist, als der üblichen Aussage des Neuen Testaments zu folgen, die ihn als Junggesellen hinstellt.«