60. KAPITEL
Sangreal … Sang Real … San Greal … der Heilige Gral … das königliche Blut …
Es hing alles zusammen.
Der Heilige Gral ist Maria Magdalena … die Mutter der königlichen Nachkommenschaft Jesu Christi …
Sophie stand im Ballsaal, noch immer verwirrt und ungläubig. Ihre Gedanken überschlugen sich. Je mehr Steine dieses Puzzles Teabing und Langdon vor ihr ausbreiteten, desto unglaublicher und undurchschaubarer wurde das Ganze.
Teabing hinkte zu einem Bücherbord. »Wie Sie sehen, meine Liebe«, sagte er, »ist Leonardo da Vinci nicht der Einzige, der versucht hat, der Welt die Wahrheit über den Heiligen Gral zu offenbaren. Das königliche Geblüt Christi ist in der Gelehrtenwelt ausgiebig und bis ins letzte Detail untersucht worden.« Teabing ließ den Finger über mehrere Dutzend Buchrücken gleiten.
Sophie neigte den Kopf zur Seite, sodass sie einige der Titel entziffern konnte:
DAS GEHEIMNIS DER TEMPLER
Die geheimen Hüter des wahren Wissens um das Wesen und die Person Christi.
DIE FRAU MIT DEM ALABASTERGEFÄSS:
Maria Magdalena und der Heilige Gral
DIE FRUCHTBARKEITSGÖTTIN IN DER HEILIGEN SCHRIFT
Die Wiedergewinnung des Mutterkults
»Und hier der vielleicht bekannteste Titel«, sagte Teabing, zog einen abgegriffenen Band aus dem Regal und reichte ihn Sophie. Auf dem Umschlag stand:
DER HEILIGE GRAL UND SEINE ERBEN
Der internationale Bestseller
Sophie blickte auf. »Ein internationaler Bestseller? Ich habe noch nie von diesem Buch gehört.«
»Sie haben das Glück, zu jung dafür zu sein«, sagte Teabing. »Dieses Buch hat Anfang der Achtzigerjahre großes Aufsehen erregt. Die Autoren haben für meinen Geschmack hier und da überzogene Schlüsse gezogen, doch ihre Grundannahme ist vernünftig. Ihnen gebührt das Verdienst, die Thematik der Dynastie Jesu Christi an eine breitere Öffentlichkeit getragen zu haben.«
»Und wie hat die Kirche auf dieses Buch reagiert?«
»Mit Empörung, versteht sich. Damit war zu rechnen. Schließlich handelte es sich um ein peinliches Geheimnis, das die Kirche schon im vierten Jahrhundert aus der Welt schaffen wollte. Sogar in den Kreuzzügen ging es zum Teil noch darum, brisante Informationen an sich zu reißen und sie für immer verschwinden zu lassen. Maria Magdalena stellte für die Männer der Kirche eine so immense Bedrohung dar, dass sie ihnen das Genick brechen konnte. Nicht nur, dass Jesus die Aufgabe, seine Kirche zu gründen, einer Frau – seiner eigenen Frau – übertragen hatte, diese Frau verkörperte obendrein den Beweis, dass der von der Kirche proklamierte Gottessohn eine Dynastie von Sterblichen begründet hatte. Zur Abwehr der nachhaltigen Bedrohung stellte die Kirche Maria Magdalena beharrlich als Dirne dar und vernichtete sämtliche Dokumente, die sie als Gattin Christi ausweisen konnten. Den unliebsamen Behauptungen, dass Christus Nachkommen hatte und dass er ein sterblicher Prophet gewesen war, sollte auf diese Weise ein Riegel vorgeschoben werden.«
»Die historische Beweislage für diesen Sachverhalt ist erdrückend«, sagte Langdon und nickte Sophie zu.
»Zugegeben«, sagte Teabing, »das höre sich düster an, aber man muss auch verstehen, dass die Kirche wohl beraten war, dieses Täuschungsmanöver zu unternehmen. Wäre allgemein bekannt geworden, dass Christus Nachkommen hatte, hätte die Kirche nicht überleben können. Ein von Jesus gezeugtes Kind hätte die zentrale Vorstellung von der Göttlichkeit Christi unhaltbar gemacht – ebenso den allein selig machenden Anspruch der katholischen Kirche, dass der Mensch nur durch sie allein und ihre Sakramente mit Gott in Verbindung treten und die Aufnahme ins Himmelreich bewirken könne.«
»Die fünfblättrige Rose!«, sagte Sophie plötzlich und deutete auf einen der Buchrücken. Genau die gleiche Rose wie auf dem Rosenholzkästchen.
Teabing grinste Langdon an. »Sie hat gute Augen, nicht wahr?« Er wandte sich Sophie zu. »Das ist das Symbol der Prieuré de Sion für den Gral und für Maria Magdalena. Da sie von der Kirche mit Acht und Bann belegt wurde, haben sich zahlreiche Pseudonyme für ihren Namen entwickelt – der Kelch, der Heilige Gral, die Rose … « Teabing hielt inne. »Die Rose steht in Beziehung zum fünfzackigen Stern der Venus und zum Leitstern der Kompassrose. Die Bezeichnung ›Rose‹ ist übrigens im Englischen, Französischen, Deutschen und vielen anderen Sprachen gleich.«
»Rose ist außerdem ein Anagramm auf Eros«, sagte Langdon, »den griechischen Gott der geschlechtlichen Liebe.«
Sophie streifte ihn mit einem überraschten Seitenblick, während Teabing unbeirrt fortfuhr.
»Die Rose war immer schon das vorrangige Symbol der weiblichen Sexualität. In primitiven Fruchtbarkeitskulten stehen die fünf Blätter der Rose für die fünf Wendepunkte im Leben der Frau – Geburt, erste Menstruation, Mutterschaft, Menopause und Tod. In neuerer Zeit wird die Beziehung der blühenden Rose zur Weiblichkeit eher auf optischem Gebiet gesehen.« Er blickte Robert an. »Vielleicht kann uns hier der Symbolkundler weiterhelfen.«
Robert suchte nach einem Ansatzpunkt, allerdings einen Augenblick zu lang.
»Du lieber Himmel«, lästerte Teabing, »was seid ihr Amerikaner prüde.« Er schaute wieder Sophie an. »Was Robert so schwer über die Lippen will, ist die Tatsache, dass die Rosenblüte dem weiblichen Genitale ähnelt, jener verborgenen Blüte, durch die jedes Menschenwesen die Welt betritt. Falls Sie jemals ein Gemälde von Georgia O'Keefe gesehen haben, wissen Sie, was ich meine.«
»Letztlich geht es hier doch darum«, meldete Langdon sich zu Wort und deutete auf das Bücherbord, »dass alle diese Werke die gleiche historische Annahme untermauern.«
»Dass Jesus Familienvater war?«, fragte Sophie, noch immer nicht überzeugt.
»Jawohl!«, sagte Teabing, »und dass Maria Magdalenas Schoß seine königliche Nachkommenschaft getragen hat. Die Prieuré de Sion verehrt Maria Magdalena bis zum heutigen Tag als die Göttin des Heiligen Grals, als die Rose und die göttliche Mutter.«
Plötzlich stand Sophie wieder das Ritual im Felsenkeller vor Augen.
Teabing fuhr fort: »Der Prieuré zufolge war Maria Magdalena zum Zeitpunkt der Kreuzigung schwanger. Um das ungeborene Kind nicht zu gefährden, hatte sie keine andere Wahl, als außer Landes zu gehen. Mit der Hilfe des Joseph von Arimatäa, dem vertrauenswürdigen Onkel von Jesus, ist Maria Magdalena heimlich nach Frankreich gereist, das damals ›Gaul‹ genannt wurde, und wo sie eine sichere Zuflucht in der dortigen großen jüdischen Gemeinde fand. Hier in Frankreich hat sie eine Tochter zur Welt gebracht, die den Namen Sarah erhielt.«
Sophie blickte erstaunt. »Man kennt sogar den Namen des Kindes?«
»Noch viel mehr. Das Leben von Maria Magdalena und Sarah ist von ihren jüdischen Beschützern genauestens aufgezeichnet worden. Man darf nicht vergessen, dass Maria Magdalenas Kind die Linie der jüdischen Könige fortführte – des Hauses David und Salomo. Aus diesem Grund sahen die damaligen Juden in Frankreich in Maria Magdalena eine Vertreterin des heiligen Königshauses und verehrten sie als Garantin seines Fortbestehens. Zahllose gelehrte Chronisten jener Zeit haben die Tage Maria Magdalenas in Frankreich dokumentiert, einschließlich der Geburt Sarahs und des Stammbaums, der sich daraus entwickelt hat.«
»Es gibt einen Stammbaum der Nachkommenschaft Christi?«, fragte Sophie fassungslos.
»Allerdings. Und er dürfte einer der wesentlichen Bestandteile der Sangreal-Dokumente sein – eine vollständige Genealogie der frühen Nachkommen Christi.«
»Aber was hat ein solches Dokument über die Nachkommenschaft Christi schon zu bedeuten?«, wandte Sophie ein. »Es ist doch kein unwiderlegbarer Beweis. Die Historiker können doch unmöglich seine Echtheit nachweisen.«