»Womit wir allerdings vor dem kleinen Problem stünden, dass wir keinen Text haben, auf den wir den Atbasch-Code anwenden könnten«, meinte Langdon. »Atbasch ist der Schlüssel, aber uns fehlt das Schloss.«
»Auf dem Grabstein muss sich ein Codewort befinden«, sagte Teabing nachdenklich. »Wir müssen den »gepriesenen Templerstein« finden.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Liebe Freunde«, sagte er, »ich werde uns etwas zum Knabbern besorgen und nachsehen, wie es Rémy und unserem Gast ergeht.«
Sophie sah ihm nachdenklich hinterher und blickte dann durchs Flugzeugfenster hinaus in die Schwärze der Nacht in der Stunde vor der Morgendämmerung. Sie hatte das Gefühl, durch den Raum geschleudert zu werden, ohne zu wissen, wo sich ihr Ziel befand. Als sie an die vielen Rätsel dachte, die der Schreiber dieser Zeilen, ihr Großvater, ihr als Kind aufgegeben hatte, beschlich sie das ungute Gefühl, dass in den Verszeilen weitere Informationen steckten, die ihnen bislang jedoch verborgen geblieben waren.
Wir haben noch nicht alles begriffen. In den Zeilen ist noch mehr versteckt, nur sehen wir es nicht …
Die Befürchtung, dass der Inhalt des Kryptex, so sie es denn endlich geöffnet hatten, sich nicht ohne weiteres als »Wegweiser zum Gral« entpuppen würde, beunruhigte Sophie zusätzlich. Ungeachtet Teabings und Langdons Optimismus, dass des Rätsels endgültige Lösung in dem Marmorzylinder beschlossen lag, hatte Sophie genügend »Schatzsuchen« ihres Großvaters erlebt, um zu wissen, dass Jacques Saunière seine Geheimnisse nicht so leicht preisgab.
73. KAPITEL
Der Fluglotse von der Nachtschicht im kleinen Tower von Le Bourget döste vor dem leeren Radarschirm, als Capitaine Fache ihm die Tür eintrat.
»Was ist mit Teabings Privatmaschine?«, fuhr Fache ihn an. »Ich verlange Auskunft, wohin der Mann geflogen ist!«
Die anfänglichen Versuche des Fluglotsen, sich auf den Datenschutz und die Privatsphäre des wohlgelittenen britischen Flugplatzkunden zu berufen, scheiterten kläglich.
»Wie Sie wollen«, sagte Fache kühl, »dann sind Sie wegen Gewährung der Starterlaubnis für eine Privatmaschine ohne vorherige Einreichung eines Flugplans verhaftet.« Fache winkte einem Beamten, der sich mit Handschellen vor dem Fluglotsen aufbaute. Der Mann bekam es mit der Angst zu tun. In der Presse wurde darüber gestritten, ob Fache, der erfolgreichste französische Polizist, ein Held oder eine Landplage war. Für den Fluglotsen hatte diese Frage sich soeben von selbst beantwortet.
»Warten Sie!«, stieß er beim Anblick der Handschellen hervor. »Ich kann Ihnen lediglich sagen, dass Teabing häufig Flüge nach London unternimmt, um sich dort ärztlich behandeln zu lassen. Er hat auf dem Biggin Hill Executive Airport in Kent einen Hangar, am Rand des Stadtgebiets von London.«
Fache pfiff den Beamten mit den Handschellen zurück. »Ist Teabing heute Nacht nach Biggin Hill geflogen?«
»Das kann ich nicht sagen«, erwiderte der Lotse wahrheitsgemäß. »Die Maschine ist auf ihrer üblichen Startbahn abgeflogen. Nach dem letzten Radarkontakt könnte das Ziel aber durchaus Biggin Hill gewesen sein.«
»Hatte Teabing noch andere Personen an Bord?«
»Ich habe keine Ahnung, Capitaine. Wenn sie es wünschen, können unsere Kunden bis in ihren Hangar fahren und ihre Maschinen dort beladen und einsteigen, vor Wind und Wetter geschützt. Und was die Fluggäste angeht, fallen sie in den Verantwortungsbereich der Zollbehörden am Zielflughafen.«
Mit einem Blick auf die Uhr sah Fache hinaus auf die vorderen Empfangsgebäude abgestellten Düsenmaschinen. »Wie lange dauert ein Flug nach Biggin Hill?«
Der Lotse tippte auf der Tastatur seines Computers. »Teabings Maschine könnte etwa um sechs Uhr dreißig wieder am Boden sein. Das wäre in fünfzehn Minuten.«
Fache wandte sich an einen seiner Beamten. »Besorgen Sie mir ein Flugzeug. Ich muss nach London. Und stellen Sie mir eine Verbindung zur örtlichen Polizei von Kent her. Das MI5 lassen wir aus dem Spiel. Ich will keinen großen Bahnhof. Sagen Sie den Beamten, sie sollen Teabings Maschine gleich nach der Landung auf dem Rollfeld umstellen. Niemand darf das Flugzeug verlassen, bevor ich dort bin!«
74. KAPITEL
»Sie sind so still«, sagte Langdon mit einem Blick hinüber zu Sophie auf der anderen Seite der Kabine.
»Nur ein bisschen müde«, antwortete sie. »Und der Vierzeiler. Ich weiß nicht, recht … «
Auch Langdon war ziemlich erschöpft. Hinzu kam das monotone Geräusch der Triebwerke, das eine einschläfernde Wirkung hatte. Außerdem brummte ihm noch der Schädel von dem Schlag des Mönchs. Teabing war immer noch hinten im Flugzeug.
Langdon beschloss, den ungestörten Augenblick zu nutzen, um mit Sophie über etwas zu sprechen, das ihn schon einige Zeit beschäftigte. »Ich glaube, Sophie«, sagte er, »ich kenne den Grund, weshalb Ihr Großvater uns zusammengebracht hat. Vermutlich wollte er, dass ich Ihnen etwas erkläre.«
»Und was?«
Langdon wusste nicht recht, wie er fortfahren sollte. »Ich … nun, ich weiß, weshalb Sie seit zehn Jahren nicht mit Ihrem Großvater gesprochen hatten und warum es zu Ihrem Zerwürfnis kam. Ihr Großvater hat wohl gehofft, dass Sie ihn eher verstehen, wenn ich Ihnen die Sache erkläre.«
»Ich habe Ihnen doch gar nicht erzählt, weshalb wir uns entzweit haben«, sagte Sophie verunsichert.
Langdon blickte sie vielsagend an. »Sie sind Zeugin eines Sexualritus geworden, nicht wahr?«
Sophie zuckte zusammen. »Woher wissen Sie das?«
»Weil Sie mir sagten, Sie hätten etwas beobachtet … etwas, das Sie dem Schluss führte, dass Ihr Großvater einer Geheimgesellschaft angehörte. Und was immer Sie beobachtet haben, es hat Sie so bestürzt, dass Sie seitdem nicht mehr mit Ihrem Großvater gesprochen haben. Ich weiß ein klein wenig über Geheimgesellschaften Bescheid. Man braucht kein da Vinci zu sein, um zu erraten, was Sie gesehen haben.«
Sophie schaute ihn mit großen Augen an.
»War es im Frühjahr?«, wollte Langdon wissen. »Zur Zeit der Tag- und Nachtgleiche? Mitte März?«
Sophie blickte zum Fenster hinaus. »Ja. Ich war ein paar Tage eher von der Universität nach Hause gekommen … «
»Möchten Sie mir die Geschichte nicht erzählen?«
»Lieber nicht.« Unvermutet wandte Sophie sich vom Fenster ab und blickte ihn an. In ihren Augen spiegelte sich der Widerstreit der Gefühle. »Außerdem … Ich weiß gar nicht, was ich gesehen habe.«
»Sind Männer und Frauen da gewesen?«
Einen Herzschlag lang zögerte Sophie; dann nickte sie.
»Die einen schwarz gekleidet, die anderen weiß?«
»Ja. Die Frauen trugen weiße durchsichtige Gewänder und goldene Pantoffeln, und sie hielten einen goldenen Ball. Bei den Männern waren die Gewänder und die Schuhe schwarz.«
Langdon versuchte, Ruhe zu bewahren. Er konnte kaum glauben, was er da hörte. Offenbar war Sophie Neveu unfreiwillig Zeugin einer viertausend Jahre alten heiligen Zeremonie geworden. »Trugen sie auch Masken?«, fragte Langdon weiter. »Androgyne Masken?«
»Ja, sie hatten alle Masken … die gleichen Masken. Die Frauen weiße, die Männer schwarze.«
Langdon hatte Beschreibungen des Rituals gelesen und kannte dessen mythische Wurzeln. »Man nennt es hieros Gamos. Das Ritual ist mehr als viertausend Jahre alt. Ägyptische Priester und Priesterinnen haben es zur Verehrung der fruchtbringenden Kraft des Weiblichen regelmäßig gefeiert.« Er beugte sich vor. »Wenn Sie ohne Einweihung Zeugin des hieros Gamos geworden sind, wundert es mich nicht, dass Sie schockiert waren.«
Sophie antwortete nicht.
»Hieros Gamos ist griechisch und bedeutet ›heilige Hochzeit‹«, erklärte Langdon.