Außer dass die Opfer Europäer waren, war an dem Fall nichts Besonderes.
Polidorio knüpfte die Akte wieder zusammen, schaute sich lange die Notizen an, die er gemacht hatte, und ging dann zum Chef und ließ sich zwei Tage freigeben. Er behauptete, mit seiner unlängst eingetroffenen Familie ein wenig Zeit verbringen zu wollen, schrieb einen Zettel für Asiz, er solle die Fingerabdrücke auf der Waffe überprüfen, und setzte sich ins Auto.
12. CHAMSIN
Strömen zwei Medien unterschiedlicher Dichte aneinander vorbei, ergibt sich eine wellenförmige Begrenzungsfläche.
Es gab zwei Wege zur Piste nach Tindirma. Der kürzere führte in schräger Linie durch Salzviertel und Wüste direkt darauf zu, der andere umging die Elendsquartiere in einer kilometerlangen Schleife im Norden, um knapp vor den Bergen in rechtem Winkel auf die Piste abzuzweigen. Polidorio kannte beide Wege nicht, entschied sich für den kürzeren und hatte sich nach fünf Minuten im Salzviertel verfahren.
Wie um jede andere größere Stadt hatte sich um Targat ein Gürtel aus Bidonvilles gelegt, und die Bereitschaft der Verwaltung, die erbärmlichen Hütten hin und wieder mit Bulldozern die Berghänge hinabzuschieben, schien den gleichen Effekt zu haben wie das sorgfältige Beschneiden einer Pflanze. Nach jeder Säuberungswelle wucherte das Dickicht undurchdringlicher, Straßen und Wege versickerten darin. Wellblech, Kanister, Schutt. Alles, einschließlich der Wege, schien aus Müll zu sein und aus ihm zu wachsen. Mitten auf der breitesten Straße taten sich auf einmal tiefe Löcher auf, in denen Familien lebten. Einige waren mit Plastikfolie bedeckt und mit einer Krone aus Steinen verziert. Als Polidorio in einer Sackgasse zu wenden versuchte, kamen barfüßige Kinder gelaufen und drückten ihre schmutzigen Handteller aufs Beifahrerfenster. Ein Mädchen auf zwei Krücken versperrte den Weg. Andere stellten sich dazu, im Nu schloss eine Menschenmenge das Auto zähflüssig ein. Krüppel, Halbwüchsige, verschleierte Frauen. Sie schrien und rissen an den verriegelten Türen.
Polidorio versuchte, niemandem in die Augen zu sehen. Er hielt mit beiden Händen das Lenkrad umklammert und drückte den Wagen albtraumhaft langsam durch die Menge. Fäuste schlugen aufs Dach. Als sich vor dem Kühler eine kleine Lücke auftat, gab er Gas und entwischte in die nächste Seitengasse. Es erschien ihm wie ein Wunder, dass diese Gasse lang, gerade und menschenleer war. In der Ferne erkannte er zwischen den Baracken die ersten Ausläufer der Wüste.
Er wollte sich gerade entspannt zurücklehnen, als ein Geräusch ihn zusammenfahren ließ. Es schien aus dem Innern des Autos zu kommen. Blick in den Rückspiegeclass="underline" drei grinsende Kinder. Sie standen auf der hinteren Stoßstange, die Finger oben in die Regenleiste gekrallt. Das mittlere Kind hatte nur eine Hand am Dach und hielt in der anderen eine Sichel, mit der es gegen die Heckscheibe pickte. Der Tacho zeigte 45 Stundenkilometer. Polidorio ging sofort vom Gas. Zwei blinde Passagiere sprangen ab, aber nicht das Kind mit der Sichel.
In der Sandwüste fuhr er leichte Schlangenlinien, und das Picken hörte auf. Das Kind trug die Sichel jetzt quer im Mund und krallte sich mit beiden Händen an der Regenleiste fest. Einen Kilometer hinter den Baracken und Hütten sprang der Junge endlich ab. Im Rückspiegel sah Polidorio ihn mit seinem Werkzeug zwischen den Dünen davontaumeln.
Er ließ den Wagen ausrollen. Der Schweiß war ihm bis in die Schuhe gelaufen. Aus dem Kofferraum holte er eine Flasche Wasser. Die Flasche in der rechten Hand, mit der linken wild in der Luft rudernd, erstieg er die größte Düne der Umgebung und sah sich um. Schräg voraus erspähte er eine in Ost-West-Richtung verlaufende Reihe von Telegraphenmasten, die wahrscheinlich die Piste nach Tindirma markierte. Sonst nur Sand. Er trank einen Teil des Wassers, schüttete sich den Rest über den Kopf und rutschte wieder zu seinem Auto hinab.
Eine Dreiviertelstunde war er bereits auf der Piste unterwegs, als er am Horizont etwas Eigenartiges bemerkte. Eine kleine, gelbe, schmutzige Wolke, die sich langsam ausdehnte. Er beobachtete sie genau. Nach ein paar Minuten nahm sie bereits die ganze Breite des Horizonts ein. Er hatte so etwas noch nie gesehen und wusste doch sofort, was es war. Oben an den Dünen flatterten schon kleine Fahnen aus Sand. Der Wind nahm rasch an Stärke zu, der Himmel färbte sich dunkelbraun. Schließlich wurde es einen Moment windstill. Dann bekam das Auto einen Schlag, der es fast von der Piste schob. Polidorio machte eine Vollbremsung. Ein Sandstrahlgebläse war auf seine Windschutzscheibe gerichtet, er konnte kaum noch die Spitze der Kühlerhaube erkennen. Es war ein Prasseln und Knistern, als ob der Wagen in Flammen stünde. Fast eine Stunde lang saß Polidorio fest.
Während er wartete, fiel ihm ein, dass hier in der Gegend irgendwo Amadou verhaftet worden war, kurz nachdem er die vier Morde begangen hatte. Oder auch nicht begangen hatte. Der Gedanke drängte sich auf, dass unter den Bedingungen dieser Landschaft nicht nur ein Menschenleben unbedeutend war, sondern, philosophisch gesprochen, auch vier Menschenleben oder das Leben der ganzen Menschheit. Polidorio wusste nicht genau, wie er auf diesen Gedanken kam. In seinem Büro sitzend wäre ihm dergleichen nicht nur nicht philosophisch, sondern läppisch erschienen. Mit schweißnassen Fingern stellte er das Radio an. Kein Empfang. Die Wüste flog waagerecht an ihm vorbei. Als schemenhaft wieder die Piste erkennbar war, versuchte Polidorio, weiterzufahren, aber die Räder drehten durch. Er wickelte sich ein Stück Tuch um den Kopf und öffnete die Tür. Eine Eimerladung Sand flog in den Wagen, er schloss die Tür wieder.
Als sich der Wind so weit gelegt hatte, dass man gefahrlos aussteigen konnte, schmiegten sich breite Sandhaufen aerodynamisch an die Form der Karosserie. Ein paar Meter vor dem Wagen stand jetzt ein Schild, das dort vorher nicht gestanden hatte. Es schaute mit der Spitze aus einer mannshohen Düne, war dreieckig und verrostet und die Aufschrift kaum leserlich. 102 … Rest unentzifferbar.
Der Himmel änderte die Farbe zu lichtem Ocker. Polidorio arbeitete mit Händen und Unterarmen, um den Sandhaufen am Heck abzutragen, und versuchte das Auto mit unter die Räder gelegten Sandblechen zum Weiterfahren zu bewegen. Er brauchte fast eine halbe Stunde dafür, dann noch mal eine weitere Stunde, um nach Tindirma zu gelangen, und dort noch einmal ungefähr zehn Minuten im Gespräch mit den Mitgliedern der Kommune, um herauszufinden, dass sie glaubwürdig waren. Dass sie die Wahrheit ausgesagt hatten. Und dass das Verbrechen sich nicht anders abgespielt haben konnte als in den Protokollen verzeichnet. Einhundertzwei.
13. BEI DER ARBEIT
Alert! Alert! Look well at the rainbow. The fish will rise very soon. Chico is in the house. The sky is blue. Place notice in the tree. The tree is green and brown. The fish will not take much time to rise. The fish is red.
Dem Kamel war ein Bein hochgebunden. Auf drei Stelzen schaukelte es zwischen den schmächtigen Männern herum, die ihm ins Maul und auf die Hufe starrten. Lundgren überlegte, wie viele Beine man dem Kamel noch hochbinden konnte, ohne dass es umfiel. Eins war möglich, zwei schwierig, bei drei war vermutlich Feierabend. Physik war nicht seine Leidenschaft, wie gesagt, aber es war auch nicht so, dass sie ihn gar nicht interessiert hätte. Lundgren war ein von Natur aus neugieriger Mensch, ein wissensdurstiger Mensch, undogmatisch und weltoffen, ohne gleich im Sumpf des Liberalismus zu versinken. Er konnte zuhören, er hatte ein ans Unheimliche grenzendes Gespür dafür, was in anderen vorging, eine feine Beobachtungsgabe. Schon immer gehabt. Die Mädchen an seiner Schule hatten es als Erste zu spüren bekommen. Sie mochten ihn. Die Jungen mochten ihn auch, wenn sie nicht gerade eifersüchtig waren wegen der Mädchen. Lundgren, strahlender Mittelpunkt des Moreno-Soziogramms. El Lobo. Und er war der kollegiale Typ. Vater Sozialdemokrat. Wenn der Lehrer sich bei der Klassenarbeit umdrehte, hielt Lundgren das Heft hoch, damit alle es sehen konnten. Auch in Physik, auch in Biologie. Lundgren. Er lachte. Er würde auf einen Kamelmarkt gehen und einem zehn Dollar geben, damit er dem Kamel ein zweites Bein hochband. Vorne rechts und hinten links. Oder vorne rechts und hinten rechts. Zehn Dollar. Aber dann Bein hoch und gucken. Verrückter Einfall! Lundgren malte es sich aus. Köstlich. Er würde jemandem davon erzählen, wenn er jemandem davon erzählen könnte. Wenn er fertig war mit seinem Auftrag hier. Erst Auftrag, dann Kamel. Dann Beauty-Queen. Oder erst Beauty-Queen, dann Kamel. Er lachte Tränen. Als er die Augen wieder öffnete, saß neben ihm am Tisch ein Mann. Der Mann in sonnengebräunter Kleidung und karierter Haut. Lundgren stellte in Sekundenbruchteilen die professionelle Fassade wieder auf. Kawock! Da saß ein Mann neben ihm. Er sah ihn aus den Augenwinkeln. Er bemühte sich, woanders hinzusehen. Da war der Mann. Der Mann, der Mann, der Mann.