Der Mann bestellte Tee. Drei Minuten Schweigen. Dann hielt Lundgren es nicht mehr aus und fragte: «Wie heißen Sie?»
Der Mann hatte gerade sein Teeglas zum Mund geführt, hielt in der Bewegung inne und sagte bedächtig: «Ja.»
«Wie heißen Sie?», wiederholte Lundgren leise.
«Ja!», erwiderte der Mann ebenso leise.
«Was ist los?»
«Was?»
«Wie Sie heißen!»
«Wie?»
Der Karierte schaute ängstlich die Straße hinunter, um das Terrain zu erkunden, wedelte unauffällig mit der Hand, um die Lautstärke des Gesprächs herunterzudämpfen, und flüsterte kaum hörbar: «Wie heißen Sie?»
«Sie zuerst», sagte Lundgren.
«Sie haben angefangen.»
«Was?»
«Sie haben doch angefangen.»
«Na schön», sagte Lundgren und ahmte die Handbewegung des anderen nach. «Herrlichkoffer.»
«Was?»
«Herrlichkoffer. Nicht so laut. Oder Lundgren. Für Sie Herrlichkoffer.»
«Für mich Herrlichkoffer.»
«Ja! Und jetzt schreiben Sie Ihren Namen hier — hier — hier.»
Lundgren zog einen Block aus der Tasche und schob ihn über den Tisch. Der Karierte malte sieben Druckbuchstaben auf das Papier. Nur wenig später lief Lundgren auf seine Pension zu. Ein unbeschreibliches Gefühl nach all der Aufregung. Alles klar! Sein Gehirn funkte die Meldung raus, dass erfolgreich nach Öl gebohrt wurde. Ein Telefon wäre jetzt hilfreich gewesen. Die Wuste brennt, Wuste mit u. Aber da war kein Telefon. So ging die Meldung von Lundgrens Gehirn nur an Lundgrens Gehirn: QZ ausgeführt stop die Wuste brennt stop C3 auf Oel gestossen.
Nein, Quatsch. UZ, nicht QZ! Jetzt nur keine Fehler.
14. SCHWARZWEISS
Ich bin da wie jeder andere, ich sehe lieber schlechte amerikanische Filme als schlechte norwegische Filme.
Canisades schaltete den Fernseher ein, hob die Füße auf den Schreibtisch und starrte lange auf den schwarzen Bildschirm. Die Bildröhre fing an zu knistern, eine grisselige Analoguhr erschien. Es war zwei Minuten vor sechs.
Canisades hatte den Nachmittag im Krankenhaus mit dem Versuch herumgebracht, das mutmaßliche Opfer einer Massenvergewaltigung zu befragen, und war nun zu müde, das Protokoll zu beginnen. Er konnte es sich im Grunde auch sparen. Drei Cousins des Opfers hatten am Krankenbett Wache gehalten und dafür gesorgt, dass er das Mädchen nicht zu Gesicht bekam. Nur durch Vermittlung einer Ärztin war es möglich gewesen, ein Gespräch durch einen improvisierten, weißen Vorhang hindurch zu führen. Das Ergebnis war so unspektakulär wie vorhersehbar: keine Vergewaltigung, sondern ein Sturz von der Treppe. Canisades musste sich von der Ärztin die Art der Verletzungen, die Lage der Blutergüsse, büschelweise ausgerissene Haare und Platzwunden beschreiben lassen. Er stellte die Namen der Cousins fest, von denen zwei der Beteiligung an der Vergewaltigung beschuldigt wurden und die ihn ungerührt, fast heiter verabschiedeten. Zur Anzeige gebracht hatte das Ganze die elfjährige Schwester des Opfers, die durch ein Fenster zugeschaut hatte und zur Polizei gelaufen war, wo sie das Unglück gehabt hatte, auf einen unbestechlichen Beamten zu treffen. Jetzt saß das Mädchen irgendwo im Zentralkommissariat, eine Strohpuppe und Targats einzige Anwältin an ihrer Seite, und ahnte möglicherweise bereits, dass der schönere Teil ihres Lebens vorbei war.
«Du schaust fern?» Asiz latschte kaugummikauend durch das Zimmer, warf eine Akte auf den Schreibtisch, kratzte sich am Rücken und verschwand im Nebenzimmer.
«Was?», schrie Canisades ihm hinterher.
«Die Akte.»
«Was soll ich damit?»
«Die Fingerabdrücke.»
«Was für Fingerabdrücke?»
«Auf der Mauser.»
«Auf welcher Mauser, bist du blöd? Heute Morgen war Urteilsverkündung.»
Fünf volle Sekunden passierte nichts. Dann schwenkte Asiz seinen Oberkörper zurück in den Raum. Er hatte aufgehört zu kauen. «Nenn mich nicht blöd, ich mach nur meine Arbeit. Ich hab stundenlang an dieser Mauser rumgeklebt. Dann legt mir keine Scheißzettel ins Fach, wenn ihr kein Scheißergebnis wollt.»
Er verschwand wieder. Man hörte, wie im Nebenraum eine Tür geöffnet wurde.
«Polidorio oder wer?», rief Canisades ihm hinterher.
«Woher soll ich das wissen?»
«Und was ist das Ergebnis?»
«Ja, was wohl? Was? Wenn ich euch Idioten schon Stunden …»
Mehr war nicht zu verstehen.
Eine Minute vor sechs setzte dramatische Geigenmusik ein. Canisades angelte nach der Akte, aber mit den Beinen vor sich auf dem Schreibtisch konnte er sie nicht erreichen. Die Musik brach ab, die Kamera fuhr zurück, und die grisselige Analoguhr wurde Teil eines Nachrichtenstudios. Ein sehr junger, sehr gut aussehender Mann saß hinter einem Teakholztisch, auf dem in genauer Symmetrie ein Blumengesteck, ein Kondensatormikrophon und ein schwarzer Telefonapparat standen. Der junge Mann begrüßte die Zuschauer auf Arabisch und Französisch und verlas die Meldungen anschließend nur auf Französisch.
Zu Ehren des Königs war an seinem vierundsechzigsten Geburtstag eine Parade abgehalten worden. Man sah weiß Uniformierte auf prächtigen Schimmeln, Lakaien in weißen Togen, die Pfauenfedern trugen. Ein hoher Offizier wurde zum Provinzgouverneur ernannt. Eine Oberschule war abgebrannt. Der Nachrichtensprecher las ernst und salbungsvoll. Als hinter ihm das Bild einer Frau in schwarzem Hidschab erschien, die sich vor verkohlten Kinderleichen auf dem Boden wälzte, brach ihm die Stimme. Mit einem unterdrückten Schluchzen tauchte er unter den Tisch, schnäuzte sich und verlas nach angemessener Pause die Fördermengen jüngst erschlossener Phosphorminen des Nordens. Dazu sah man eine Frau in knappem Höschen, die mit beiden Beinen waagerecht vor sich in der Luft stand. Unter ihr eine Sandgrube, hinter ihr eine Tartanbahn: Heide Rosendahl. Der Sprecher stockte kurz, und schon zeigte ein Einspieler einen Mann mit einem weißen Sonnenhütchen auf dem Kopf und Schuhcreme im Gesicht, der sich mit einer Gruppe von Anzugträgern unterhielt. Andere Männer in flotten Trainingsanzügen turnten mit Maschinengewehren über die Flachdächer des olympischen Dorfes. Der Freiheitskampf des palästinensischen Volkes würde. Der Münchner Polizeipräsident habe. Alle Geiseln seien. Anschließend minutenlanges Interview mit einem hohen geistlichen Würdenträger, der scharfsinnig die Lage analysierte.