Canisades hatte beide Hände hinter dem Kopf verschränkt, sperrte den Mund auf und schob den Unterkiefer knackend hin und her. Dann nahm er die Beine vom Schreibtisch und griff nach der Akte. Das DIN-A4-Blatt mit den Fingerabdrücken lag obenauf. Standardtext, darunter zwei quadratische Rahmen mit je einem kartoffeligen Abdruck in der Mitte.
«Targat», sagte der Nachrichtensprecher.
Canisades blickte auf. Der Bildschirm zeigte die Fotografie eines weißen Lieferwagens mit vergitterten Fenstern, der von einem Zwölftonner quer gegen eine Hauswand gefahren worden und wie eine Konservendose aufgeplatzt war. Der am Vormittag zum Tode verurteilte vierfache Mörder Amadou Amadou sei während des Gefangenentransports zur Hinrichtungsstätte entsprungen. Zur Fotografie umgewandt zeigte der Nachrichtensprecher mit beiden Armen die sich überkreuzenden Fahrtrichtungen der Autos an, erläuterte den Unfallhergang und schloss mit einem Zitat des Polizeigenerals, das sinngemäß besagte, man werde des entsprungenen Häftlings in Kürze erneut habhaft sein und möge Allah seiner Seele Frieden schenken, denn man selbst werde dies nicht tun. Er stieß den Papierstapel vor sich auf den Tisch und hüstelte. Die Kamera zoomte zurück auf die Analoguhr. Es war Viertel nach sechs.
Canisades betrachtete die Kästchen. Ein rechter Daumen von der Waffe, deutlich erkennbar, und der rechte Daumen Amadous, vor zehn Tagen auf dem Revier abgenommen. Identisch.
ZWEITES BUCH: DIE WÜSTE
15. TABULA RASA
Wieder zehn Tagereisen von den Garamanten kommt wieder ein Salzhügel und eine Quelle, und wohnen Menschen darum her, die heißen die Ataranten. Das sind, unseres Wissens, die einzigen Menschen ohne Namen. Nämlich alle zusammen heißen sie Ataranten, jeder einzelne aber hat keinen besonderen Namen.
Ein Blick wie auf eine Theaterbühne, zwei dunkle Holzbretter rechts und links als improvisierte Vorhänge. Im schmalen Keil dazwischen der hohe, blaue Himmel, fast weiß, hell und schmerzend auf der Netzhaut. Unten die Wüste. In der Wüste drei Männer in weißen Dschellabahs. Im ersten Moment sind die Männer ununterscheidbar, dann werden aus ihnen ein Kleiner, ein Dicker und ein Unscheinbarer. Ihre Münder bewegen sich, die Hände flattern. Der Kleine redet auf den Dicken ein, der Dicke hält einen Bastkoffer im Arm, der im Sonnenlicht aufleuchtet. Nach einer Weile verschwindet der Unscheinbare aus dem Bild. Der Dicke schlägt sich von unten mit der flachen Hand gegen das Kinn und schürzt die Lippen. Der Kleine lacht. Er nimmt eine comichaft übertriebene Haltung ein, eine Faust vorgestreckt, die andere angewinkelt hinterm Kopf, als wolle er im nächsten Augenblick auf den Dicken losgehen. Dann geht er wirklich auf den Dicken los, und der Dicke schlägt ihn zu Boden. Der Bastkoffer fällt in den Sand, ein Schwall Papiergeld weht heraus. Der Unscheinbare stapft zurück ins Bild und redet mit den beiden. Sie bücken sich nach dem Geld. Als der Wind dreht, werden ihre Stimmen hörbar. Sie sprechen über einen Mann namens Cetrois, versichern sich gegenseitig, dass es nicht an ihnen gelegen hat. Dass sie keine Schuld trifft. Dann halten sie alle gleichzeitig inne und starren in eine Richtung. Allein die Hände des Dicken tasten wie automatisch weiter durch den Sand. Der Kleine wendet sich an den Unscheinbaren und flüstert ihm etwas zu. Der Unscheinbare hält ein imaginäres Bündel Geld hoch und steckt es in eine imaginäre Tasche. In der Ferne erklingt das Geräusch eines Dieselmotors. Eine Autotür schlägt im Off zu. Ein Vierter kommt ins Bild, ebenfalls in weißer Dschellabah. Sein Gesicht und seine Stimme unterscheiden ihn nicht wesentlich von den anderen, allein in seiner Haltung liegt mehr Entschlossenheit. Er spricht ein mit arabischen und englischen Brocken versetztes Französisch.
«Habt ihr’s?», fragt der Vierte, und der Kleine sagt, dass sie einem den Schädel eingeschlagen hätten.
«Larbi hat einem den Schädel eingeschlagen. Mit dem Wagenheber. Hat gekracht wie morsches Holz.»
«Habt ihr’s?», wiederholt der Vierte, und der Kleine wendet sich zum Dicken um, und der Dicke sagt: «Cetrois ist damit in die Wüste.»
«Ich denk, du hast ihm den Schädel eingeschlagen?»
«Nicht Cetrois.»
«Wem dann?»
«Keine Ahnung.»
«Wo ist Cetrois?»
«Der kommt nicht weit.»
«Wo er ist!» Der Vierte packt den Dicken am Kragen.
Der Dicke, der Kleine und der Unscheinbare heben gleichzeitig je einen Arm und synchronisieren sich mühsam.
«Was steht ihr dann hier rum?»
«Er ist auf’m Moped!»
«Ich denk, er war zu Fuß?»
«Ja, aber er ist da in die Scheune rein. Und dann gleich auf’m Moped wieder raus.»
«Wo ist euer Auto? Und verdammt noch mal, was ist das für ein Scheißkoffer?» Der Vierte tritt dem Dicken den Bastkoffer aus dem Arm. Das Geld wirbelt erneut davon.
«Ja, wenn ich mal ausreden dürfte!», sagt der Kleine.
Der Vierte zieht eine Pistole und richtet sie auf den Kleinen. Der macht kreischend einen Schritt seitwärts. Der Vierte gibt ihm einen so mächtigen Tritt in den Unterleib, dass er aus dem Bild fliegt.
«Man kann ja seine Spur sehen», ruft der Unscheinbare.
«Dann zeig mir die Spur!», sagt der Vierte.
Der Kleine kommt vornübergekrümmt zurück ins Bild, einen Arm über den Bauch gelegt, den anderen wie zur Abwehr erhoben.
«Wir hatten ihn ja praktisch schon», jammert er. «Wir waren ja schon dran. Ich hatte ihn schon vor der Kühlerhaube! Aber dann Cetrois in die Dünen, und in den Scheißdünen ist der Chevy eingesackt. Wir also zu Fuß hinterher und Larbi schon direkt hinter Cetrois — und wie wir über eine Düne klettern!» Er hebt die Hände auf Schulterhöhe und macht ein überraschtes Gesicht.
«Liegt da alles voller Geld!», assistiert der Dicke.
«Und ich meine: deutsches Geld!», sagt der Kleine. «Das teilen wir natürlich durch vier. Dreißig-dreißig-zehn, um mal eine Hausnummer zu sagen, ich meine, dreimal dreißig und dann … zehn. Wir können auch achtundzwanzig oder fünfundzwanzig …»
Ein Schuss kracht los, und der Kleine sackt zu Boden. Für einen Moment liegt er reglos, dann wälzt er sich herum und betrachtet erschrocken seinen unverletzten Körper.
«Wo ist Cetrois? Zeig mir die verdammte Spur!», brüllt der Vierte, der über dem Kleinen steht und mit der Pistole hinter sich auf den Horizont zeigt.
«Da! Da! Da!», ruft der Unscheinbare und rennt aus dem Bild. Der Vierte folgt ihm, der Kleine ebenfalls.
Der Dicke bückt sich nach dem Bastkoffer, und sofort kommt der Vierte zurück. Er hat die Waffe umgedreht in der Hand und hämmert mit dem Griff auf den Kopf des Dicken. Er nimmt ein Bündel Geldscheine und reibt es ihm ins Gesicht. «Weißt du, wer das ist? Das ist Goethe. Nein, weißt du natürlich nicht! Wer ist Goethe? Scheißgoethe ist Scheißostdeutscher. Das ist Scheiß-DDR-Geld, das sind keine zwanzig Dollar. Zeigt mir die verschissene Spur, und wenn wir ihn nicht kriegen — betet! Betet.»
Er geht wieder aus dem Bild, der Dicke hinterher.
Die Stimme des Kleinen aus dem Off: «Wir wussten ja nicht, dass da ’n Moped ist. Woher sollten wir wissen, dass da ’n Moped in der Scheune ist. Und was seinen Kumpel angeht —»
Die Stimme des Vierten: «Was für ’n Kumpel?»
Die Stimme des Kleinen: «Dem Larbi den Schädel eingeschlagen hat. Du hörst ja nicht zu! Cetrois ist da rein in die Scheune und eine Minute später auf’m Moped wieder raus. Wir dreihundert Meter dahinter — keine Chance. Also wir da auch rein, vielleicht gibt es ja noch ein Moped? Und dann ist da dieser Typ. Haben wir den natürlich gefragt: Wo will er hin? Wo will er hin? … Weil wir ja wussten. Und da hat er’s nicht gesagt, und dann hat Larbi ihm mit dem Wagenheber den Schädel eingeschlagen. Und wir konnten ja schlecht zu Fuß … und weil wir wussten, du kommst gleich mit dem Jeep … und uns jederzeit … keine Vorwürfe machen …»