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Das Tier spazierte behäbig einmal in seinem Laufstall herum, schnupperte an seiner Flanke und starrte dann Helen mit kleinen, schwarzen Knopfaugen an. Obgleich es viel kleiner war als der Zwischenraum der Gitterstäbe, verließ es den Käfig nicht.

Fowler nahm im Schneidersitz auf einer Matratze Platz und wartete, bis Helen sich ihm gegenüber niedergelassen hatte. Er bedachte sie mit einem Blick, der vielleicht tief und feurig sein sollte und eine umgekehrte Wirkung auf Helen nicht verfehlte. Helen beobachtete das Tier. Das Tier gähnte.

«Das ist Gurdjieff. Er versteht alles, was du sagst.»

«Das da?»

«‹Das da› ist ein Ouz.»

«Und wenn ich Französisch spreche?»

«Versteht Gott dich, wenn du betest?»

«Ich bete nicht.»

«Sophismus.»

«Worüber wolltest du reden?»

«Wir reden ja schon.»

«Ach ja?»

«Du bist Jüdin. Sagt Michelle.»

«Eigentlich nicht.»

«Immer auf Konfrontation.»

«Das ist für dich schon Konfrontation? Worüber wolltest du reden?»

«Versteh mich nicht falsch. Ich werte nicht. Ich konstatiere nur. Und was ich konstatiere, ist: Negativismus. Spitzfindigkeit. Konfrontation.»

Helen seufzte und sah wieder zu dem Tier. Es war dem raschen Wortwechsel mit Blicken gefolgt wie einem Tennismatch, aufmerksam, ernst und konzentriert.

«Schau mich an», sagte Fowler mit bedrohlicher Schärfe.

Helen sah ihn an, und Fowler schwieg. Er bewegte die Zunge im geschlossenen Mund und schloss dann langsam, meditativ die Augen.

«Du bist nicht umsonst hierhergekommen», flüsterte er. «Und auch nicht aus dem Grund, aus dem du glaubst. Du hast von den vier Morden gehört. Du bist hier, um deine Schaulust zu befriedigen. Du bist hier, weil —»

«Ich bin Michelles älteste Freundin.»

«Du kannst antworten, wenn ich fertig bin!» Er riss wütend die Augen auf und ließ viel Zeit verstreichen, bevor er sie wieder schloss und mit seiner Rede fortfuhr. «Ich habe gesagt: Du bist nicht umsonst gekommen. Was du gehört hast, hat etwas in dir ausgelöst. Es hat dich tiefer getroffen, als du weißt. Du willst Michelle besuchen. Sagst du. Du wirst sie nicht finden. Wie — du wirst sie nicht finden? Du hast sie doch eben gesehen? Bleib sitzen. Die Wüste verändert dich. Der Nomade. Wenn einer lange hier gelebt hat, wird sein Blick ein anderer. Der Wüstenbewohner ist ruhig, er ist das Zentrum. Er geht nicht auf die Dinge zu, die Dinge gehen auf ihn zu. Das ist die Kälte, die du spürst. Es ist keine Kälte. Es ist Wärme. Allumfassende Energie. Der Anfang der Freiheit.» Fowler griff blind nach Helens linker Brust und knetete sie teilnahmslos. «Was bedeutet Freiheit? Aha. Freiheit bedeutet nicht, tun und lassen zu können, was man will. Freiheit bedeutet, das Richtige zu tun.»

Er öffnete einen kurzen Moment lang die Augen und blinzelte, wie um die Wirkung seiner Worte zu überprüfen. Diesen Moment nutzte Helen, um ihm ins Gesicht zu schlagen. Fowler zog seine Hand langsam und majestätisch zurück. Er lächelte würdevoll. Keineswegs gekränkt. Eine Frage der Menschenkenntnis. Er hatte vorausgesehen, was passieren würde, und er war noch immer Herr der Situation. Milde und verständnisvoll blickte er Helen an, und Helen wurde den Eindruck nicht los, dass das Ouz sie auf genau die gleiche Weise ansah.

«Du hast deine Emotionen unter Kontrolle. Immer unter Kontrolle gehabt. Dadurch werden sie unkontrollierbar. Du wunderst dich, woher ich das weiß. Du bist ein steiler Zahn. Das hast du oft gehört. Steiler Zahn, steiler Zahn. Von schwachen Männern. Männern, die dich nicht interessierten. Tief im Innern weißt du: Dir ist etwas anderes bestimmt. Du bist der typische Fünfer, an der Grenze zur Sechs. Wobei ich mit Sechs jetzt das Dienende meine. Du bist nicht offen. Bleib sitzen.»

Fowler streckte abermals seine Hand aus, und Helen stand auf und ging zur Tür. Dort blieb sie stehen und zeigte mit dem Kinn zum Laufstall hin: «Was hat die Ratte da eigentlich auf dem Kopf?»

Fowler überhörte das Wort Ratte und winkte kaum merklich ab, Gleichmut und Nachsicht unter halbgeschlossenen Lidern. Er konnte niemanden verurteilen, aber es blieb doch ein Rest von Herablassung in seiner Geste. Er hatte die Kraft und die Gabe, die Menschen zu erkennen, aber nicht die Kraft, seine Position zu verbergen. Daran musste er noch arbeiten. Er war der klassische Neuner, wie er im Buche stand.

Erst als Helen ein paar Schritte auf den Käfig zu machte, sprang er auf.

«Nicht anfassen!»

«Warum?»

«Du bist noch nicht so weit.»

Auf dem Flur wartete Michelle mit Asthmaspray und Taschentuch. Ihrer demonstrativen Unbefangenheit nach zu urteilen hatte sie gelauscht.

«Willst du mir nicht mal dein Zimmer zeigen?», fragte Helen. «Falls du ein Zimmer hast. Oder das Haus.»

21. MAISPFLANZEN

In jeglicher Form des Angriffs ist eine Annäherung an den Gegner von hinten erforderlich.

Dicta Boelcke

Die Anwesenheit der alten Schulfreundin in den Räumlichkeiten der Kommune zwang Michelle, die bunten Farben, die Sinnsprüche, die Hausaltäre, Blumengestecke und Batikbilder noch einmal mit anderen Augen zu sehen, und ließ, während sie Helen herumführte, eine Fülle längst vergessener Vorstellungen in ihr wiederauferstehen.

Sie entschuldigte sich unaufhörlich für den Schmutz und die Unordnung, verteilte mit flüchtigen Handbewegungen Haufen Räucherstäbchenasche über die Erde und schob mit dem Fuß einen Wust von Zetteln unter ein Bett, auf denen am Vorabend jemand mit vielen Symbolen, Pfeilen und Zickzacklinien die geheime Botschaft des Weißen Albums entschlüsselt hatte. Die Gottheiten nannte sie schöne Schnitzereien, die Karten einen Zeitvertreib und den Bücherstapel mit den Pentagrammen das Überbleibsel eines vor langer Zeit abgewanderten Mitgliedes.

«Ich freue mich so, dass du da bist», sagte sie zum Schluss.

Helen sah Michelle stirnrunzelnd an, und Michelle fing an zu weinen.

Sie hatte sich im Grunde nicht verändert. Etwas leicht Verträumtes, Unklares war ihr immer eigen gewesen, Freundlichkeit und Güte. Aber es waren Wesenszüge, die auf nichts hinausliefen. Michelle traf keine Entscheidungen. Weder ihr Elternhaus noch eine solide Bildung oder die Jahre in der Kommune hatten daran etwas ändern können. Heiter und planlos übernahm sie fremde Ansichten, mischte sie mit Einfalt und Herzensgüte und besaß nun das zweifelhafte Glück, Teil einer Gemeinschaft zu sein, in der dies eher als Reiz denn als Problem empfunden wurde. «Michelle ist etwas Besonderes», lautete das hinter ihrem Rücken am häufigsten gesprochene Verdikt, wenn sie sich für handfeste, diesseitige Interessen wieder einmal als zu ungeschickt oder zu gleichgültig erwiesen hatte.

Spannungen blieben so nicht aus, und Michelle löste das Problem für sich, indem sie in der Kommune mit umso größerer Hingabe den beiden Tätigkeiten nachging, die keine Durchsetzungskraft erforderten und für die sie das größte Talent besaß. Erstens Landwirtschaft: Allein Michelle war es zu verdanken, dass die Felder der Kommune überhaupt noch einen messbaren Ertrag abwarfen. Und zweitens: war etwas komplizierter.

Zweitens nämlich hatte Jean Bekurtz, ein alteingesessener, mittlerweile wieder untergetauchter (oder in der Wüste verschollener) Kommunarde von einer seiner Reisen ein Tarotspiel mitgebracht, den Nachdruck einer oberitalienischen Ausgabe aus dem 16. Jahrhundert, kolorierte Holzstiche, zweiundzwanzig Stück, die großen Arkana. Bekurtz selbst glaubte nicht an das Wirken schicksalhafter Mächte, oder jedenfalls nicht mehr, als ihm zu seiner eigenen Unterhaltung eine Zeitlang angezeigt erschien. Er hatte zwei Bücher zum Thema mitgekauft, fand sie aber anstrengend zu lesen und verlor bald das Interesse. Einzig der Eindruck, den die Holzstiche bei einer Vorführung auf das Neumitglied Michelle machten, gab ihm noch einmal zu denken: Wie Michelle vom ersten Moment an eher abgestoßen als begeistert wirkte, wie sie dennoch nach den Karten griff, wie sie lange überlegte und Fragen zu Positionen stellte, zeigte Bekurtz mehr als deutlich, dass er nicht der richtige Mann für die Chartomantik war. Er brachte ihr bei, was er wusste, und überließ ihr das Handwerkszeug ohne Neid.