Michelle fand die Bücher nicht anstrengend. Sie verschlang sie. Und als sie sie verschlungen hatte, verschlang sie sie noch einmal. Nicht eine Sekunde lang hatte sie den Eindruck, verborgenes Geheimwissen in sich aufzunehmen, unerklärliche, von Adept zu Adept über Jahrhunderte weitergereichte Weisheit, sondern es war im Gegenteil, als sei ihr jedes Wort, jeder Satz bekannt, als habe alles dies in ihrem eigenen Kopf lange vorher existiert, ja fast, als habe sie die Bücher selber geschrieben.
Auch andere Mitglieder der Kommune interessierten sich für das Tarot, aber niemand drang so mühelos und rasch in seine Geheimnisse ein, niemand legte die Karten mit so glücklicher Hand, niemand deutete sie so richtig und tief aus ihrem Innern wie Michelle. Wenn sie das Blatt aufnahm und sorgfältig mischte, wenn sie einen Moment die Augen schloss, bevor sie mit dem Daumen die oberste Karte ein wenig nach vorne schob und den Kartenstapel wie eine Sonde über den feingeknüpften Teppich hielt, wenn ihre Augenlider zu zucken begannen unter der Konzentration auf höheres Wesen und Wirken, musste auch der größte Zweifler verstummen.
Bald kam dieser und jener und fragte um Rat. Allein Fowler meldete Bedenken an diesem Treiben an, aber seine Einwände verdankten sich (relativ durchschaubar für alle) weniger der Kontaktaufnahme zum Übersinnlichen als der Gefährdung seines Machtanspruches.
Es dauerte nicht lange, und Michelle begleitete alle wichtigen Entscheidungen der Kommune mit den Karten. Während ihre Argumente in Diskussionen oft ungehört blieben, wurden ihre Orakel eine Richtschnur des Handelns. Anfangs nur zu wichtigsten, überpersönlichen Dingen befragt, gab es bald nichts mehr, wozu die Karten die Auskunft verweigerten. Alles, was entschieden werden konnte, wurde durch die Karten mitentschieden, und niemand, auch Fowler nicht, konnte behaupten, dass sich auch nur eine dieser Entscheidungen im Nachhinein als Fehler erwiesen hätte. Sie gaben Auskünfte über Kleines und Großes, über Zukunft, Charakter und Entwicklung, über das Wetter und die Fruchtfolge ebenso wie über die Aufnahme neuer Mitglieder, die Farbe, in der ein Zimmer zu streichen sei, oder den Aufenthaltsort eines verlorenen Haustürschlüssels.
Michelles Talent war in jeder Hinsicht außergewöhnlich. Doch es war mehr als ein Talent, es war auch eine große Last. Schon als das Spiel ihr zum ersten Mal vorgeführt worden war, hatte sich gezeigt, dass manche der Bilder eine solche Suggestion auf sie ausübten, dass Suggestion ein zu kleines Wort war.
Der Mond war ein solches Bild; aber schlimmer als der Mond war der Gehängte. Michelle hatte eine Katzenhaarallergie, und die Symptome, die der Anblick des Gehängten in ihr auslöste — ein gefolterter Knabenkörper, der vor dem Hintergrund einer herbstlichen Landschaft mit Bergen und dem Planeten Neptun mit einem Bein kopfüber an einer Stange hing — , glichen denen der Allergie vollkommen. In der ersten Zeit hatte sie den Gehängten deshalb gern aus dem Stapel genommen und versteckt, doch nachdem Bekurtz sich einmal öffentlich darüber verwundert gezeigt hatte, dass das Deck nur noch aus einundzwanzig Karten bestand, entwickelte Michelle eine Mischtechnik, bei der sie den Gehängten unsichtbar unter den Stapel schob und dafür sorgte, dass er dort auch blieb.
Die Folge dieses Vorgehens, das Michelle selbst als unlauter empfand, waren gewisse Ungenauigkeiten in ihren Deutungen, winzige, sich aufsummierende Fehler, die zu der einen oder anderen Ungereimtheit und eines Tages in die Katastrophe führten. Denn allein mit dieser Mischtechnik war es zu erklären, dass sie die schrecklichen Gefahren, die ihrer Gemeinschaft drohten, die Absichten Amadous, den Überfall, den Raub, den Vierfachmord nicht ganz richtig vorhergeahnt und stattdessen nur undeutlich von großen Umwälzungen gesprochen hatte (die sich in der Kombination der restlichen Karten überdeutlich genug abzeichneten). Seither war Michelle ein Nervenbündel. Von geheimen Schuldgefühlen geplagt, wurde sie dünnhäutig und reizbar.
Was sich lindernd auf ihre Psyche auswirkte, war allein die Tatsache, dass sie mit den vier Toten nicht in engster Verbindung gestanden hatte. Das dämpfte ihren Schmerz ein wenig, wenn auch nur im Geheimen. Denn umgekehrt war es nicht ohne Reiz, untröstlich und Teil eines großen Leidens zu sein, für immer vom Leben gezeichnet. Fast wie ein Orden auf der Brust.
Michelle war froh, als sie mit Helen endlich hinter dem Haus anlangte, wo ein kleines Maisfeld in sattem Grün stand. Jenseits aller ideologischen Vorbehalte waren dies solide Pflanzen, respektable Pflanzen, für die man sich nicht zu schämen brauchte.
«Und was machst du eigentlich hier — in Targat?», fragte sie.
«Arbeit.»
«Echt? Ich dachte — echt? Was denn?»
«Für einen Konzern», sagte Helen. «Kosmetik. Nur dass bei der Ausschiffung mein Musterkoffer mit allen Unterlagen —»
«Du arbeitest für einen Kosmetikkonzern? Als Vertreterin?»
«Nein, nicht Vertreterin. So ähnlich. Ich soll hier was aufbauen.»
«Für einen amerikanischen Konzern? Du arbeitest für einen amerikanischen Kosmetikkonzern?»
«Ich seh mich nur um.»
«Im Ernst?», rief Michelle.
Sie konnte sich kaum beruhigen. Ihre über alles bewunderte Jugendfreundin Helen, die gefürchtete Helen Gliese mit ihrer schneidenden Intelligenz, die zynische Helen, die hochmütige Helen — ein kleines Rädchen im bürgerlich-kapitalistischen Verwertungszusammenhang!
Ihr Gesichtsausdruck wechselte von einer Sekunde auf die andere vollkommen. Es lag Michelle fern, auf jemanden herabzuschauen, aber ihr Erstaunen war grenzenlos und echt. Wieder einmal bewahrheitete sich die schmucklose Allmacht der großen Zerstörerin Zeit: Was wird aus dem Menschen und seinen Träumen und Hoffnungen? Was aus dem strahlenden Stern, dem intellektuellen Star der Matarazzo Junior High, dem von Jungen umlagerten, blonden und hochbrüstigen Mädchen?
Unwillkürlich sah sie sich selbst daneben. Michelle hatte — und es war ihr nie zuvor so bewusst geworden — den Sprung ins Unbekannte gewagt. Die kleine Michelle, die im Grunde immer nur geduldete, von Helen nie für voll genommene Michelle Vanderbilt, sie hatte dem bürgerlichen Sicherheitsdenken Lebewohl gesagt und ihre Ideale verwirklicht. Sie hatte eine Kommune in Afrika mitbegründet, hatte die Scholle mit Händen aufgebrochen und ihr Dasein in eine Suche verwandelt. Sie hatte die höchsten Höhen durchmessen und war doch durch tragische Umstände vom Leben für immer gezeichnet. Vier Menschen waren neben ihr erschossen worden! Und in tiefstem Dunkel war ihre Seele gewachsen. Wie sonderbar nahm sich dagegen nun die Jugendfreundin aus, wie sie da stand vor einem Feld herrlicher, selbstgesäter Maispflanzen, in ihrer etwas unpraktischen, modischen Kleidung — Angestellte eines Kosmetikkonzerns! Die Ironie des Schicksals.
Helen übersah das bis zum Rand mit Triumph gefüllte Gesicht Michelles und blickte auf ein kleines, vertrocknetes Maispflänzchen am Rande des Feldes, das sich aus dem großen Kreislauf des Lebens und der alldurchdringenden Energie verabschiedet zu haben schien. Am Fuß der Pflanze befand sich ein Nest wimmelnder, weißlicher Maden in der Erde, das von Ameisen attackiert wurde. Kleine, weiße Kugeln schwammen auf dem schwarzen, wimmelnden Strom einem verschlingenden Erdloch zu. Michelle, von ihrer eigenen Genugtuung beschämt, folgte Helens Blick.