«Ja, so ist das!», rief sie überschwänglich. «Traurig, oder? Die weißen Dinger kriechen hier überall rum. Manchmal hab ich die Ameisen weggemacht mit dem Finger, um zu helfen, aber — es hilft ja nichts. Das ist die Natur. Es ist so, wie es ist. Und es ist gut so. Die Maden und all die anderen kleinen Tiere und wir Menschen auch, wir sind letztlich nur Teil eines größeren Ganzen, eines gemeinsamen Projekts.»
«Ich vermute, wenn man sie befragen könnte, würden deine Thesen im Lager der Ameisen mehr Zustimmung erhalten als bei den Maden.»
«Die meisten Menschen denken nicht darüber nach, die sehen nur einen Teil. Doch solang du das nicht hast, dieses Yin und Yang … es gehört alles zusammen, Leben und Sterben, ob dir das bewusst ist oder nicht. Und ich stell mich da nicht drüber. Alles ist eins. Alles ist sinnvoll.»
«Auschwitz», sagte Helen.
Doch so leicht konnte man Michelle nicht aus dem Konzept bringen. «Auschwitz», sagte Michelle ernst. «Ich weiß, wie du das meinst, und ich verstehe das. Ich verstehe das natürlich besonders bei dir und deiner Familie. Und natürlich war es falsch, was die Deutschen gemacht haben. Da gibt es keine Diskussionen: Das war falsch!» Sie schaute einen Moment bedeutungsvoll. «So wie es auch falsch ist, die Juden mit diesen Maden zu vergleichen, wie du es eben — unbewusst, nehme ich an, oder unabsichtlich — getan hast. Obwohl du ja selbst … aber was ich sagen wilclass="underline" Palästina. Was ihr, ich meine, was die Israelis den Palästinensern antun, das ist ja auch nichts anderes als Auschwitz — nein, warte, ich sag das noch zu Ende — im Grunde ist es schlimmer, weil ihr aus der eigenen Geschichte nichts gelernt habt, wie so viele aus der eigenen Geschichte nichts lernen, aber hier eben besonders tragisch, weil Juden, genauso wie Palästinenser, beide unter dem Einfluss des Merkur stehend — ich meine, was die ungeheuren Verbrechen betrifft, die da begangen werden, die Verbrechen an palästinensischen Frauen und Kindern, an unschuldigen Menschen, an Säuglingen, die unerträglichen Verbrechen», sagte Michelle und sah mit zusammengekrampften Augenbrauen auf das Massaker zu Füßen der Maispflanze, «diese unerträglichen Verbrechen», sagte sie und kämpfte mit den Tränen, «es ist furchtbar, furchtbar, furchtbar.»
«Findest du», sagte Helen und schubste mit der Fußspitze eine Ladung Sand über das Nest, was Maden und Ameisen gleichermaßen verwirrte. Auch sie schienen dem Einfluss des Merkur ungünstig ausgeliefert.
22. EINE TANKSTELLE IN DER WÜSTE
Gas Station Attendant: Yes ma’am, what can I do for you today?
Varla: Just your job, squirrel. Fill it up!
Aber zum Bleiben konnte Michelle ihre Freundin nicht überreden. Sie wusste, dass Helen auf Szenen dieser Art allergisch reagierte, und versuchte beim Abschied, ihr hysterisches Schluchzen und ihre Hochstimmung zuvor zu einem Gemütszustand zusammenzuerklären, einem durch höchste Anspannung, Leiden und Freude verursachten Gemütszustand. Allein Helen benahm sich, wie sie sich immer benommen hatte in solchen Situationen: kalt. Was wusste sie vom Leben? Würde sie je etwas wissen?
«Ich würd dich gern noch mal wiedersehen», sagte Michelle, und zwei weitere Sätze gingen im Schniefen unter. Gewaltsam löste Helen sich aus der Umarmung ihrer Freundin, ihr Blick fiel dabei auf einen Zettel, der an der Innenseite der Haustür hing: Wo immer du hingehst, wartet dein Schicksal.
«Jetzt werd nicht sentimental», murmelte sie.
«Leute wie dich haben wir hier gefressen!», rief eine Stimme aus der Küche.
Michelle protestierte weinerlich, aber vom nun folgenden Streit in der Kommune bekam Helen schon nichts mehr mit. Sie hatte genug erfahren, ihre Mission war erfüllt.
Sie stieg in ihr Auto, atmete durch und fuhr, so schnell sie konnte, durch die Wüste zurück in Richtung ihres Schicksals, von dem sie zu diesem Zeitpunkt noch annahm, dass es die Hotelbar sein würde.
An einer Tankstelle, die knapp hinter Tindirma in der Wüste lag, kaufte sie zwei Liter Wasser, sie kramte ein paar Münzen aus ihrem Portemonnaie und sah einem verdreckten Achtjährigen dabei zu, wie er ihre Windschutzscheibe mit braunem Seifenschaum einschmierte. Der Tankwart pumpte Benzin hoch.
Er nahm einen Zwanzig-Dollar-Schein von Helen, und während er damit in seinem Schuppen verschwand, um Wechselgeld zu holen, fuhr ein weißer VW-Bus mit deutschem Kennzeichen langsam in die Tankstelle ein und blieb auf der anderen Seite der Zapfsäule mit laufendem Motor stehen. Gelbe Vorhänge an den Fenstern, ein junges Pärchen. Sehr jung.
Der Fahrer warf einen kurzen Blick auf Helen und wandte sich sofort ab, als sie seinen Blick erwiderte. Mit beiden Händen hielt er fest das Lenkrad umklammert. Seine Freundin hatte eine Landkarte auf dem Armaturenbrett ausgebreitet. Sie war die deutlich Agilere von beiden, redete laut, gestikulierte mit einem Wurstbrot und drückte vom Beifahrersitz aus die Hupe, um den Tankwart zu rufen. Inzwischen hatte der Achtjährige auch Seiten- und Heckfenster an Helens Auto zugeschmiert. Sie stieg aus und zündete sich eine Zigarette an.
Um die Tankstelle herum lag überall Müll. Von einer Düne herab und durch den Müll hindurch kam ein arabisch aussehender Mann auf das Tankstellengebäude zugestakst. Sein Gesicht war wie versteinert, die Augen blutunterlaufen. Als er den Müll hinter sich gelassen hatte, versank er für ein paar Schritte knietief im weichen Sand, und als der Boden unter seinen Füßen wieder fester wurde, lief er Schlangenlinien. Es waren weder sehr betrunkene noch gedankenverlorene Schlangenlinien. Sie erinnerten Helen an die Laborratten in Princeton, die im Experiment auf eine Belohnung zusteuerten, von der sie aus langer Erfahrung wussten, dass sie mit Stromschlägen abgesichert war. Der Mann taumelte hinter den VW-Bus, umkreiste unentschlossen den Honda und kam plötzlich zielstrebig auf Helen zu. «Hilfe, Hilfe», sagte er in heiserem Englisch und stützte sich auf der Motorhaube ab. Er trug einen mit Sand und schwarzer, klebriger Flüssigkeit verschmierten Anzug. In der Ersten Welt wäre er als harmloser Landstreicher durchgegangen, mitten in der Sahara wirkte er ein wenig bedrohlicher.
Helen holte eine kleine Münze aus der Tasche und hielt sie ihm hin. Er sah die Münze nicht. Von seinem Ärmel war ein wenig Dreck auf der Kühlerhaube des Honda kleben geblieben, und er beugte sich vor, um das Auto mit dem Zipfel seines Jacketts sauber zu wischen.
«Lassen Sie das. Nehmen Sie das.»
«Was?»
«Lassen Sie das, bitte.»
Er nickte, richtete sich auf und wiederholte: «Hilfe, Hilfe.»
«Was wollen Sie?»
«Nehmen Sie mich mit.»
«Wohin?»
«Irgendwohin.»
«Tut mir leid.»
Der Mann lehnte die noch einmal hingehaltene Münze mit schmerzverzerrtem Gesicht ab, und als er dabei ein wenig den Kopf drehte, sah Helen die große, mit Blut und Sand verkrustete Wunde an seinem Hinterkopf. Seine Augen suchten den Horizont ab. Das deutsche Pärchen im VW-Bus, das die Szene die ganze Zeit beobachtet hatte, war unruhig geworden. Der Fahrer schüttelte den Kopf und machte durchs Seitenfenster hindurch abwehrende Handbewegungen mit beiden Händen. Die Beifahrerin las mit zerfurchter Stirn die Gebrauchsanleitung auf einer CS-Gas-Dose.
Der Tankwart erschien wieder, drückte Helen wortlos das Wechselgeld in die Hand und machte sich dann am Tankdeckel des VW-Busses zu schaffen.
«Was ist los?», fragte Helen den Verletzten.
«Ich weiß es nicht.»
«Sie wissen nicht, was los ist?»
«Ich muss weg hier. Bitte.»
«Glauben Sie an Schicksal oder so was?»
«Nein.»
«Das ist ja schon mal was.» Sie sah den Mann eine Weile nachdenklich an. Dann öffnete sie ihm die Beifahrertür.