Jetzt hielt das Pärchen im VW-Bus es nicht länger aus. Der Junge kurbelte das Fenster runter. «Achtung, Achtung!», rief er in schlechtem Englisch. «Nicht Europa hier! Kein Trampen.»
«Gefahr, Gefahr!», assistierte seine Freundin.
«Gefahr, Gefahr», sagte Helen. «Geht euch einen Scheiß an.» Und zum Mann: «Na los.»
Sie stieg in den Honda. Er wischte sich einmal symbolisch mit den Händen über die sandverkrusteten Hosenbeine, sprang dann schnell auf den Beifahrersitz, schlug die Tür hinter sich zu und starrte durch die Windschutzscheibe wie ein Häschen, bis Helen den Motor anließ.
«Sie müssen keine Angst haben», sagte er, nachdem sie ein paar Minuten auf der Piste fuhren.
Helen zog an ihrer Zigarette und warf ihm erneut einen langen Blick zu. Ihr Beifahrer war einen halben Kopf kleiner als sie und saß mit zitternden Ärmchen neben ihr. Sie hielt ihren eigenen, muskulösen Arm neben seinen und machte eine Faust.
«Ich sag ja nur», sagte der Mann.
«Ich fahr nach Targat. Da bring ich Sie ins Krankenhaus.»
«Ich will nicht ins Krankenhaus.»
«Dann zum Arzt.»
«Nicht zum Arzt!»
«Wieso nicht?»
Es kam lange keine Antwort. Schließlich sagte er unsicher: «Ich weiß nicht», und Helen ging vom Gas und ließ den Wagen ausrollen.
«Nein!», rief der Mann sofort. «Bitte! Bitte!»
«Du weißt nicht, wo du hinwillst. Du weißt nicht, warum du wo hinwillst. Du musst zum Arzt und willst nicht — und weißt nicht, warum. Na komm. Was weißt du denn?»
Dafür, dass er nicht viel wusste, dauerte seine Erzählung ganz schön lang. Immer wieder musste Helen nachfragen. Der Mann sprach stockend und mühsam. Manche Worte wollten nicht heraus, sein Oberkörper zuckte. Aber er ergänzte und korrigierte bereitwillig seine Angaben, ärgerte sich über Ungenauigkeiten, die ihm unterliefen, tippte sich aufgeregt an die Stirn und sprudelte am Ende immer mehr und mehr Details hervor. Dachboden, Geldkoffer, Poseidon. Nichts von dem, was er erzählte, ergab einen Sinn, und nicht zuletzt dieser Umstand überzeugte Helen schließlich davon, dass ihr sonderbarer Beifahrer die Wahrheit sagte. Oder es wenigstens versuchte.
Nur ein einziges Detail ließ er aus. Bei aller Gelassenheit und Souveränität, die die amerikanische Touristin hinterm Steuerrad ausstrahlte, war ein mit dem Flaschenzug erschlagener Mann vielleicht eine Spur zu viel für einen nachmittäglichen Ausflug durch die Wüste. Ausführlich und möglichst wörtlich dagegen versuchte er, das Gespräch der vier Männer wiederzugeben, das er belauscht hatte, ihre unverständlichen Reden, ihren unverständlichen Zorn, den unverständlichen letzten Satz.
«Wenn er Pauline informiert, wenn er die Bienen exportiert, wenn die Maschine funktioniert … ich weiß es nicht.»
«Wenn er die Mine jetzt zerstört», sagte Helen und schnipste die Kippe aus dem Fenster.
Vor ihnen tauchten die beiden Kamele auf, die sich über der Straße in der Luft küssten. Geruch von Holzfeuern und Schiffsdiesel wehte von Targat herüber. Im Westen war der Himmel rot und schwarz.
23. MERCUROCHROM
Wenn ein Dieb ergriffen wird beim Einbruch und wird dabei geschlagen, dass er stirbt, so liegt keine Blutschuld vor. War aber schon die Sonne aufgegangen, so liegt Blutschuld vor.
Das von einer Jalousie in Streifen geschnittene Licht des Mondes lag auf einem Doppelbett, parallele Schlangen aus Licht. Ein zweites Fenster stand offen, Meeresrauschen und der Geruch von Salz und Jod. Das Geräusch gleichmäßiger Atemzüge. Er wälzte sich herum und sah ein paar Handbreit von sich entfernt ein Büschel blonder Haare.
Vier Tabletten hatte er geschluckt, das wusste er, die restlichen Tabletten lagen neben ihm auf dem Nachttisch vor einem Glas Wasser. Das wusste er auch. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Es war finster. In komplizierten Labyrinthen kämpfte er darum, einen Blick durch ein Fernglas werfen zu dürfen. Er sah in die Mündung einer kleinkalibrigen Waffe, und ein Mann mit Dreizack stürmte auf ihn zu. Er blickte in sein eigenes Gesicht und hörte einen Dieselmotor. 581d. Aufmerksam verfolgte er, wie die spiegelbildliche Frau ihm einen Verband anlegte. Ein Fläschchen Mercurochrom in ihrer Hand. Wie sie ihn unter der Dusche festhielt. Wie er nicht stehen konnte.
Mit beiden Händen umklammerte er das Waschbecken, während sie die Wunde desinfizierte. Er hörte sich schreien vor Schmerz, ein roter Tropfen auf weißem Porzellan. Wie sie ihn beruhigte. Wie sie ihn an den Schultern vor sich herschob und mit der Handkante eine Linie auf dem Bettlaken zog: Deine Hälfte. Meine Hälfte. Hier stell ich noch Tabletten hin. Hast du das gesehen? Nimm die Hände runter. Atme.
Die parallelen Schlangen aus Licht wanderten vom Bett hinab auf den Fußboden und glitten über die Wand. Immer wieder im Verlauf der Nacht öffnete er die Augen und sah die Schlangen mal einen halben Meter weitergewandert, mal an derselben Stelle wie zuvor, ohne dass sein Zeitgefühl sich in derselben Weise fortbewegte. Schließlich stand er auf und schlich im Dunkeln zur Toilette. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass beide Hälften des Doppelbetts leer waren, aber das beunruhigte ihn nicht sonderlich. Das Badezimmer lag voller Sand. Hinter dem größten Sandhaufen war ein tiefes Loch in die Erde gegraben, das von einem Tier mit zwei Köpfen bewacht wurde. Ein Kopf vorne, einer hinten. Einer tot, einer lebendig. Mit einem Strohhalm saugte der lebende Kopf Flüssigkeit aus dem Loch, ein entsetzlich blubberndes Geräusch. Telegraphenmasten setzten sich in Bewegung, senkrechte gelbe und blaue Gitterstäbe flogen vorüber. Immer wieder versuchte er, dem Käfig der Stäbe zu entkommen, immer wieder schlossen sie ihn ein, bevor langsam und beruhigend das Gefühl einer gelb und blau gestreiften Tapete hinzuströmte. Das war kein Albtraum. Oder nur der Albtraum der Realität. Ein Touristenbungalow am frühen Morgen.
Er hatte Angst, sich im Bett herumzudrehen, Angst vor Unerwartetem, und als er sich herumdrehte, sah er eine Küche. Vor der Küchenspüle eine nackte Frau. Sie kochte Kaffee. Das Blubbern ging in ein Zischen über.
Mit einem Gesicht, als starre er in die Sonne, sagte er: «Wir kennen uns von gestern.»
«Richtig», antwortete die nackte Frau. Sie hatte präzise lackierte Fingernägel. Mit Daumen und Zeigefinger schlenkerte sie einen Kaffeefilter ins Spülbecken.
«Du heißt Helen», sagte er unsicher.
«Ja. Und wenn du nicht mehr weißt, wer du bist, mach dir keine Sorgen. Wusstest du gestern auch schon nicht. Milch oder Zucker?»
Aber er wollte weder Milch noch Zucker. Er wollte nicht frühstücken. Sobald er nur daran dachte, wurde ihm übel, und er schloss die Augen. Als er das nächste Mal erwachte, lag das Zimmer im Halbdunkel. Ein Schatten saß auf seiner Bettkante und tupfte ihm mit einem nassen Waschlappen das Gesicht ab. Aus einer Porzellanschüssel dampfte es, auf der Straße verloren sich Stimmen, die Frau schnipste eine Pille in seinen Mund. Sie trug jetzt ein weißes Kleid mit durchbrochenen Ärmeln.
Einmal sah er sie mit einer Badetasche über der Schulter und im Bikini den Bungalow verlassen. Einmal hörte er sie mit der CIA telefonieren. Einmal hatte sie zwei Köpfe. Mit zwei klobigen Styroportabletts kam sie vom Hotel zurück. Beide Tabletts waren mit Alufolie umwickelt, und als sie die Folie abmachte, dampfte das Essen, als komme es gerade aus dem Ofen. Er konnte nichts essen.
«Was hab ich dir erzählt?», fragte er.
«Weißt du das nicht mehr, oder bist du dir nur nicht sicher?»
«Nicht sicher.»
«Du bist auf einem Dachboden in einem Haus in der Wüste aufgewacht. Du hast eine Platzwunde am Kopf, wahrscheinlich hat dir jemand den Schädel eingeschlagen. Du willst weder zur Polizei noch ins Krankenhaus. Ich bin Helen. Ich hab dich mitgenommen. Das hier ist mein Bungalow.»