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Er konnte die Wahrheit nicht sagen. Er konnte aber auch nicht lügen. Um zu lügen, hätte er wissen müssen, wovon er lügen sollte. Also biss er die Zähne zusammen.

«Das funktioniert so nicht», stöhnte er.

«Ach, das funktioniert so nicht?» Der Weißhaarige griff nach dem Brieföffner wie nach dem Schaltknüppel eines Autos und schaltete einmal die Gänge durch.

«Du denkst vielleicht, es geht hier um deine Familie. Du denkst, es geht um etwas so Läppisches wie dein Leben. Aber darum geht es nicht. Es geht um Gerechtigkeit. Weil, du darfst eins nicht vergessen: Ich hab dafür bezahlt. Und da lass ich mir von einem Amateur wie dir nicht die Tour vermasseln.»

«Ich bring das in Ordnung! Ich bring das in Ordnung!»

«Wie willst du das denn in Ordnung bringen?»

Er heulte. Er sah dem Weißhaarigen von unten ins Gesicht und entschied sich, weiter im Nebel zu stochern.

«Ich weiß, wer!»

«Du weißt, wer

«Ich weiß auch, wo.»

«Wo!», brüllte der Weißhaarige.

«Wenn ich das sage, sieht’s scheiße aus für mich.»

«Es sieht auch so scheiße aus für dich.»

«Ich bring das in Ordnung, ich kann das!», brüllte er. Blut sprudelte dunkel am Metall hoch. «Ihr kennt mich! Und ich kenn euch auch! Ihr habt meine Familie!»

Der Weißhaarige blickte ihn schweigend an.

«Ihr könnt euch auf mich verlassen», wimmerte er. «Meine Frau! Mein geliebter Sohn! O mein Gott, o mein Gott, mein Sohn, mein Söhnchen!» Tränen stürzten aus seinen Augen. Er ließ sich mit dem Gesicht auf die Schreibtischplatte fallen, um es zu verbergen. Er hatte selbst den Eindruck, ein wenig zu übertreiben.

Julius beugte sich vor und flüsterte dem Weißhaarigen etwas ins Ohr. Der Weißhaarige lehnte sich in seinen Sessel zurück. Eine Minute verging. Noch eine Minute.

«Zweiundsiebzig Stunden», sagte der Weißhaarige. «Dann ist das wieder meine Mine. Zweiundsiebzig Stunden. Sonst Fingerchen, Füßchen, Öhrchen.»

Langsam zog er den Brieföffner aus der Hand.

27. DAS LÄUFERPORTAL

I know a man who once stole a Ferris wheel.

Dashiell Hammett

Es war ein milder Spätnachmittag unter einer hohen Wolkendecke. Die schmerzende Hand an die Brust gepresst, taumelte er aus der Villa. Niemand folgte ihm. Seine Knie wurden weich. Er lehnte sich gegen eine Mauer, über die mächtige Platanen hinauswuchsen. Als er kurz die Augen schloss, hörte er leise Musik.

Die Mauer gehörte zu einem Anwesen, das etwas kleiner und weniger protzig wirkte als das, das er soeben verlassen hatte. Direkt vor ihm auf dem Bürgersteig stand eine Gruppe elegant gekleideter Männer vor einem Art-déco-Portal, in das sonderbare Marmorstatuen eingelassen waren, die Laufende darstellten. Während er sich an den Männern vorbeidrängte, kam ein Polizeiauto den Berg heraufgefahren und hielt direkt neben ihm. Zwei Männer in Zivil entstiegen dem Auto und steuerten auf das Portal zu.

«Karimi ist ein Schwachkopf», hörte er den einen sagen. Er steckte die blutende Hand in die Tasche und ging mit gesenktem Kopf eilig an ihnen vorbei. Auf dem ganzen Weg die Serpentinenstraße zum Sheraton hinunter fragte er sich, was den Weißhaarigen so sicher machte, dass er nicht zur Polizei gehen würde.

Es gab eigentlich nur eine Erklärung: Er war offenbar in schwerste Verbrechen verwickelt, und was er von der Exekutive zu erwarten hatte, musste noch unangenehmer sein als das, was ihm von dem Weißhaarigen drohte. Aber was konnte schlimmer sein als die Bedrohung seines Lebens und des Lebens seiner Familie?

Erst als er schon fast bei den Bungalows angekommen war, fiel ihm noch eine zweite Möglichkeit ein. Was, wenn der Weißhaarige selbst die Polizei war? Ein hochrangiger Vertreter der Staatsmacht? Er wandte sich an ein paar Straßenhändler, zeigte mit dem Arm das Küstengebirge hinauf und fragte, ob sie wüssten, wem die riesige Villa gehöre, die dort weithin sichtbar als prunkvollstes Gebäude am Berg klebe, direkt neben der Villa mit dem merkwürdigen Läuferportal; und erfuhr, der Besitzer sei ein Mann namens Adil Bassir. Ehrfürchtig und mit einer gewissen Zurückhaltung sprachen die Leuten den Namen aus. Deutlich schwieriger als der Name war das Gewerbe des Mannes in Erfahrung zu bringen. Als es endlich jemand nannte, war es auch nicht wirklich ein Gewerbe: König der Schieber.

28. IM ATLAS

Jesus sprach: Die Menschen denken wohl, dass ich gekommen bin, um Frieden auf die Welt zu bringen. Und sie wissen nicht, dass ich gekommen bin, um Zerwürfnisse auf die Erde zu bringen, Feuer, Schwert, Krieg. Denn es werden fünf sein in einem Hause: drei werden gegen zwei und zwei gegen drei sein, der Vater gegen den Sohn und der Sohn gegen den Vater. Und sie werden allein dastehen.

Evangelium nach Thomas

«Der zweiundzwanzigjährige Hauptverdächtige, dessen blutbesudelte Kleidung ihn unwiderruflich in die Nähe des Verbrechens rückte — mein Gott, dessen blutbesudelte Kleidung … ihn unwiderruflich … am Pressewesen müsst ihr wirklich noch arbeiten. Der über und über blutbesudelte Täter jedenfalls sei mit einem gestohlenen Toyota in die Kommune, in die seit Jahren übel beleumundete Kommune ausländischer Gammler … nein, viel steht hier nicht. Erdrückende Indizien, Teilgeständnis … dem die Todestrafe drohte … da schau, er hatte die Waffe bei sich. Eine Mauser, deren Munition genau zu den Löchern passte … zu den Löchern, was ist denn das für ein Ausdruck? Hey, mein Kollege hat Löcher in sich drin! Jedenfalls seien seine Fingerabdrücke auf der Waffe gefunden worden. Ich würde mir da nicht allzu große Sorgen machen an deiner Stelle.» Helen senkte die Zeitung, um den Mann zu betrachten, der in seinem blut- und dreckverkrusteten Anzug auf dem Sofa lag, die Beine hochgelegt, einen frischen Verband um den Kopf, einen sich schon wieder rot färbenden an der rechten Hand, neben sich einen Eisbeutel.

Er stöhnte.

«Ich habe übrigens noch mal zu Hause angerufen. Ein Freund meiner Mutter kennt sich ein bisschen aus und sagt, solang das glatt durchgeht und sonst nichts getroffen ist, ist das nicht schlimm. Man muss nur aufpassen, dass es sich nicht entzündet. Wobei ich trotzdem gern noch mal auf die Sache mit dem Arzt zurückkommen würde.»

«Lies weiter.»

«Die Schmerzen sind deine Sache, aber ich will keinen Ärger kriegen, weil in meinem Bungalow ein Mann ohne Identität an Blutvergiftung krepiert. Dem zweiundzwanzigjährigen Mörder — eben war er noch Verdächtiger — dem Zweiundzwanzigjährigen, der zuletzt noch während der Urteilsverkündung bittere Tränen der Reue vergoss, gelang während eines Gefangenentransports zur Hinrichtungsstätte durch einen glaubwürdigen Verkehrsunfall die Flucht … durch einen glaubwürdigen Verkehrsunfall, Herrgott, entweder stimmt mit meinem Französisch was nicht, oder die sind total verrückt. Jedenfalls, von Gedächtnisverlust steht hier nichts. Und es war auch am Dienstag. Nein, tut mir leid. Dabei wäre das so ein schöner Name für dich gewesen: Amadou Amadou.»

«Wie alt schätzt du mich?»

«Dreißig, würde ich sagen. Auf keinen Fall zweiundzwanzig. Und ich muss dich trotzdem noch mal fragen: Warum hast du dem Kerl nichts von deiner Amnesie erzählt?»

«Was ist daran unverständlich?»

«Mit einem Brieföffner am Schreibtisch festgenagelt hätte ich dem einiges erzählt.»

«Ich hatte den Eindruck, dass ich nichts weiß, was er nicht auch weiß. Er wusste nur nicht, dass ich nichts weiß. Wenn ich das gesagt hätte, was hätte er dann wohl mit mir gemacht?»

«Aber du hättest von den vier Männern in weißen Dschellabahs erzählen können. Und dem auf dem Moped. Und was mich am meisten wundert: dass der dich einfach gehen lässt.»